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Lombardsches Paradoxon - theoretische Erörterung - Druckversion

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RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Gertrud - 27.11.2014

(27.11.2014, 20:59)Solos schrieb: Semimembranosus/-tendinosus sind nur gemeinsam erfassbar und der v. intermedius gar nicht.

Das kann aber nicht sein, weil bei der Auswertung von Chumanov et al., 2007 der biceps femoris, der semitendinosus und der semimebranos in ihren AP getrennt angegeben werden.

Ich weiß jetzt die Quelle absolut nicht mehr. Sie kam aber aus der ehemaligen DDR. Man hatte damals festgestellt, dass der vastus intermedius nur gezielt durch Radfahren angesteuert werden konnte. Darauf konnte man sich damals keinen Reim machen. Diese Aussage kann man doch ohne EMG eigentlich nicht machen.

Gertrud


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Solos - 28.11.2014

(27.11.2014, 21:10)MZPTLK schrieb: Natürlich sind die EMGs nicht wertlos, aber mit Vorsicht zu geniessen.
Schön, dass Ihr heute wesentlich bessere Apparaturen zur Verfügung habt.
Das erschwert andererseits den Vergleich mit den vor 20 Jahren erhobenen Werten.

So kommen wir überein!
Die Qualität von EMG Untersuchungen ist an viele - vor allem durch die Gewissenhaftigkeit des Untersuchers bei der Durchführung beeinflussbare - Faktoren gebunden (Hautpräparierung, Elektrodenapplikation, Messsystem, Weiterverarbeitung der Signale...). Es gibt viele Störgrößen, die sich jedoch  reltiv gut kontrollieren lassen. Die Aussagen unterliegen dann zwar immer noch gewisen Limitierungen, sind aber durchaus verwendbar und meines Erachtens auch generalisierbar (wenn es die Fragestellung/das Design zulässt).


(27.11.2014, 21:10)MZPTLK schrieb: Wenn man sich auf die Begutachtung der intermuskulären Koordinationsmuster beschränkt, da gebe ich Dir recht, mag man ziemlich aussagekräftige Ergebnisse bekommen, auch wenn einige Muskeln nicht oder nicht gut genug erfasst werden können.
Aber Muskeltonus und Wirkungsweise können wohl nur indirekt und ungenau ermittelt werden, wie siehst Du das??


Für on/off-set brauche ich im Prinzip eine gute Baseline, ein klares Signal und die Gewährleistung, dass die Elektrode während der Bewegung nicht zu weit vom abzuleitenden Muskel migriert. Das ist bei den oberflächigen Muskel der uEX gut zu gewährleisten. Störungen können immer auftreten, lassen sich aber am Signal sowie durch ein synchrones Video identifizieren. Solche Versuche müssen dann ausgeschlossen werden.

Könntest du das fett markierte spezifizieren?
Je nachdem was man darunter versteht, lassen sich durch das EMG allein keine Aussagen über Kraft-output und Wirkungsweise treffen. Das erfordert den synchronen Einsatz anderer Methoden (Kinetik, Kinematik). 


(27.11.2014, 21:10)MZPTL schrieb: Ich danke Dir für dein interessantes Update in dieser Sache.
Wie hoch schätzt Du die globale Genauigkeit der Messungen heutigen Top-Standards ein? 90 %?
Gibt es 'neuzeitliche'  - veröffentlichte - EMGs von deutschen Sprintern, und wenn nicht, was sind die Gründe?

Da kann ich keine Aussage zu machen. Die Beantwortung der Frage nach der Messgenauigkeit setzt ja auch voraus, den "wahren Messwert" als Referenz zu kennen. Es kommt auch auf die Fragestellung an: on/off halte ich für sehr genau, bei Frequenzanalysen bin ich vorsichtig.

Ich kenne keine aktuellen EMG Analysen an dt. Sprintern. Das hat aber nichts zu bedeuten.


Schaffst du den Blake jetzt ran? Mir kribbelt es schon in den Fingern! Wink


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Solos - 28.11.2014

(27.11.2014, 23:09)Gertrud schrieb: Das kann aber nicht sein, weil bei der Auswertung von Chumanov et al., 2007 der biceps femoris, der semitendinosus und der semimebranos in ihren AP getrennt angegeben werden.

Für die Ableitung der Summen-APs gibt es verschiedene Konventionen, an denen sich orientiert wird (ISEK, SENIAM,..). Diese beinhalten unter anderem verschiedene Muskeln und Aplikationsstellen der Elektroden, die sich wiederum an unterschiedlichen "landmarks" orientieren (z.B. Muskelbauch, relative Segmentabstände, Abstände zu prominenten Gelenkpunkten/Knochenvorsprüngen). Da kann es sein, dass nach der einen Konvention membranosus allein oder im verbund mit dem tendinosus zusammen über eine Elektrode abgefasst werden, während die andere beide einzeln fasst (was ja theoretisch auch geht, da der tendinosus medial leicht "herausschaut"). 


Ich würde da aber pragmatisch herangehen: Fakt ist, dass per sEMG nur oberflächliche Muskeln verlässlich abgeleitet werden können. Für tiefer liegende Schichten sind Nadelelektroden, bei dynamischen Bewegungen am besten Fine-wire Elektroden erforderlich. Der tendinosus ist jetzt so eine Art "Hybrid", den man in Ruhe vielleicht noch erfassen kann. Spätestens in der Dynamik bekommt man jedoch aufgrund der Verschiebungen ein Problem. Cross-talks lassen sich da ganz bestimmt nicht mehr ausschließen, eine getrennte Betrachtung/Interpretation wird schwer bis unmöglich. Ich würde daher die gemeinsame Ableitung bzw. die Ableitung des membranosus allein wie beispielsweise bei SENIAM oder velamed vorgeschlagen favorisieren.

(27.11.2014, 23:09)Gertrud schrieb: Ich weiß jetzt die Quelle absolut nicht mehr. Sie kam aber aus der ehemaligen DDR. Man hatte damals festgestellt, dass der vastus intermedius nur gezielt durch Radfahren angesteuert werden konnte. Darauf konnte man sich damals keinen Reim machen. Diese Aussage kann man doch ohne EMG eigentlich nicht machen.

Gertrud

Ein EMG ist Voraussetzung, oberflächlich kommt man da aber sicher nicht ran. Ich würde jedoch nicht ausschließen, dass die Probanden damals in den Genuss eines Nadel-EMGs gekommen sind! Teufel


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Gertrud - 28.11.2014

Danke für die ausführliche Antwort!

Gertrud


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 28.11.2014

(28.11.2014, 09:21)Solos schrieb:
(27.11.2014, 21:10)MZPTLK schrieb: Natürlich sind die EMGs nicht wertlos, aber mit Vorsicht zu geniessen.
So kommen wir überein! Die Qualität von EMG Untersuchungen ist an viele - vor allem durch die Gewissenhaftigkeit des Untersuchers bei der Durchführung beeinflussbare - Faktoren gebunden (Hautpräparierung, Elektrodenapplikation, Messsystem, Weiterverarbeitung der Signale...). Es gibt viele Störgrößen, die sich jedoch  reltiv gut kontrollieren lassen. Die Aussagen unterliegen dann zwar immer noch gewisen Limitierungen, sind aber durchaus verwendbar und meines Erachtens auch generalisierbar (wenn es die Fragestellung/das Design zulässt.
Aber Muskeltonus und Wirkungsweise können wohl nur indirekt und ungenau ermittelt werden, wie siehst Du das?
Könntest du das fett markierte spezifizieren?
(27.11.2014, 21:10)MZPTLK schrieb: Wie hoch schätzt Du die globale Genauigkeit der Messungen heutigen Top-Standards ein? 90 %?
Gibt es 'neuzeitliche'  - veröffentlichte - EMGs von deutschen Sprintern, und wenn nicht, was sind die Gründe?
Da kann ich keine Aussage zu machen. Die Beantwortung der Frage nach der Messgenauigkeit setzt ja auch voraus, den "wahren Messwert" als Referenz zu kennen. Es kommt auch auf die Fragestellung an: on/off halte ich für sehr genau, bei Frequenzanalysen bin ich vorsichtig.

Ich kenne keine aktuellen EMG Analysen an dt. Sprintern. Das hat aber nichts zu bedeuten.
Schaffst du den Blake jetzt ran? Mir kribbelt es schon in den Fingern! Wink
Ganz vielen Dank! Du hast sehr viel Transparenz in das Thema gebracht und die momentanen Möglichkeiten und Grenzen von EMGs aufgezeigt.
Du hast auch ausdrücklich bestätigt, dass per sEMG nur oberflächliche Muskeln verlässlich abgeleitet werden können.

Meine Frage, inwieweit es möglich ist, per EMG auch Erkenntnisse über Tonus und Wirkungsweise zu gewinnen,
war eigentlich nicht nötig oder dumm, denn auf direktem Wege geht das wohl nicht.
Man gewinnt nur neuronale Aktionspotentialwerte
und kann von daher nur indirekt und ungenau auf muskuläre und biomechanische Wirkungen schliessen.
Kann man das so sagen?

On/off-Untersuchungsdesigns scheinen mir auch sehr brauchbar zu sein.
Sehr gut gefallen hat mir Deine Aussage, dass die Beantwortung der Frage nach der Messgenauigkeit voraussetzt,
den 'wahren' Messwert als Referenz zu kennen.
So tappen wir also weiterhin im Dunkeln, sind es 5, 10, oder gar 20 % Abweichung?

Ziemlich zu denken gibt mir, dass Dir keine aktuellen EMG -Analysen an deutschen Sprintern bekannt sind...Huh
An Eurem Interesse kann es ja nicht liegen, denn Ihr seid ja sehr erpicht auf Herrn Blake...
Danke dafür, dass Du mir zutraust, ihn 'heran zu schaffen'! Rolleyes


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Solos - 28.11.2014

(28.11.2014, 13:41)MZPTLK schrieb: Man gewinnt nur neuronale Aktionspotentialwerte 
und kann von daher nur indirekt und ungenau auf muskuläre und biomechanische Wirkungen schliessen, kann man das so sagen?

Denke das kann man so sagen. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Kraftentwicklung eines Muskels und seiner Aktivierung. Dieser ist bei den Hauptantrieben im Normalfall kurvilinear. Aus den EMG Parametern auf den generierten Output zu schließen ist jedoch nicht möglich. Dazu müssen Momente/Kräfte extern erfasst oder berechnet werden. Und auch dann bleibt die Limitierung, dass man nicht jeden Muskel einzeln diagnostizieren und entsprechende Anteile am Gesamt-Output zuordnen kann.  


(28.11.2014, 13:41)MZPTLK schrieb: Ziemlich zu denken gibt mir, dass Dir keine aktuellen EMG -Analysen an deutschen Sprintern bekannt sind...Huh
An Eurem Interesse kann es ja nicht liegen, denn Ihr seid ja sehr erpicht auf Herrn Blake...
Danke dafür, dass Du mir zutraust, ihn 'heran zu schaffen'!


Es kann natürlich sein, dass unpublizierte Untersuchungen vorliegen. Wundern würde es mich nicht, schließlich gibt es eine begleitende Diagnostik im Sprint in Berlin. Auch wenn so kein Vergleich zur Weltklasse möglich wäre, ließen sich viele Fragen beantworten. 

Aber du bringst ja den Blake aus deinem nächsten Jamaika Urlaub mit, dann können   "Schäfer et al" für Aufklärung sorgen! Big Grin


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 28.11.2014

(28.11.2014, 14:43)Solos schrieb:
(28.11.2014, 13:41)MZPTLK schrieb: Man gewinnt nur neuronale Aktionspotentialwerte 
und kann von daher nur indirekt und ungenau auf muskuläre und biomechanische Wirkungen schliessen, kann man das so sagen?
Denke das kann man so sagen. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Kraftentwicklung eines Muskels und seiner Aktivierung. Dieser ist bei den Hauptantrieben im Normalfall kurvilinear. Aus den EMG Parametern auf den generierten Output zu schließen ist jedoch nicht möglich. Dazu müssen Momente/Kräfte extern erfasst oder berechnet werden. Und auch dann bleibt die Limitierung, dass man nicht jeden Muskel einzeln diagnostizieren und entsprechende Anteile am Gesamt-Output zuordnen kann. 
Aber genau das wurde doch u.a. von Wiemann zumindest insinuiert, ohne dass Kräfte extern erfasst und abgeglichen wurden.
Somit stehen seine Diagnosen und Empfehlungen doch auf sehr wackeligen Füssen HuhExclamation


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Solos - 28.11.2014

Mir ist das methodische Vorgehen Wiemanns bei den Untersuchungen im Sprint nicht präsent. Vielleicht führe ich mir die Studie in einer freien Minute noch einmal zu Gemüte. Wiemann ist allerdings ein wirklich guter, so dass ich mir eine unsaubere Methodik nicht vorstellen kann.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - icheinfachma - 28.11.2014

Könnte man denn statt der Ermittlung der Muskelspannung auf indirektem Wege über die elektrische Aktivität nicht auch direkt die an den Sehnen auftretenden Kräfte mechanisch messen? Man kann anscheinend Platten mit Dehnmesstreifen invasiv an die Sehnen anbringen, siehe diesen Artikel, Teilüberschrift "Experimente à la Frankenstein". http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/achillessehnenriss-und-co-so-trainiert-und-staerkt-man-seine-sehnen-a-972459.html


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Solos - 28.11.2014

Hab grad mal kurz reingeschaut: Bei den Untersuchungen bzgl. Paradoxons hat Wiemann die EMG- Aufzeichnungen sowie kinematisch erhobene Gelenkwinkelverläufe genutzt und mit Modellrechnungen bzgl. Längenänderung und Kraftvektoren der Ischios kombiniert. Das ist soweit gängig. 

@icheinfachma

Komi's Untersuchungen sind legendär und werden jedem Sportstudenten bebildert nahe gebracht!Big Grin 
Du könntest mal im DLV Sprintlager die Werbetrommel für solch eine Studie schlagen und bei den Ethikkommissionen der Unis anfragen. Teufel