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Lombardsches Paradoxon - theoretische Erörterung - Druckversion

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RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 14.04.2015

(14.04.2015, 18:33)lor-olli schrieb: Einfach mal auf dem Teppich bleiben… Niemand fordert eine Sprinttechnik “wie ein Känguruh“, aber betrachtet man sich die Entwicklung der Wirbeltiere von der Zeugung bis zur Geburt ergibt sich eine unveränderliche Feststellung: “wir“ sind uns beim vorgeburtlichen Wachstum lange Zeit so ähnlich, dass man beim Bild lange, keine bis wenig Unterschiede feststellen kann. In der Konsequenz ist es also gar nicht abwegig nach den Ähnlichkeiten zu suchen, die uns auch nach der Geburt noch bleiben (Bonobos teilen mehr als 99% unseres Erbgutes).
Naja, ich hatte im Thread schon Beispiele wie den Vogel Strauss oder das Flusspferd genannt(spasseshalber), um zu demonstrieren, dass wir beim Feintuning, und darum geht es bei der Diskussion um die Rolle der Ischios, in aller Regel nicht mit entfernten Verwandten der Menschheit weiterkommen, auch sogar mit Menschenaffen nicht.
 
Zitat:Die Frage ist doch, ob ein “Lombard-Paradoxon“ ein wirkliches Paradox darstellt, oder nicht vielmehr unser nicht ausreichendes Verständnis des Bewegungsablaufes beurkundet (trotz des Ansatzes von Gregor und Andrews),
Genau, das hatte ich auch einige Male erwähnt.
 
Zitat:Philosophieren verbieten? Hätte das einen Einfluss auf die Trainingslehre? Eher nicht, aber sicher auf die Diskussionen hier im Forum Wink Philosophie bringt uns technisch nicht voran, sie hilft manchmal bei der Erkenntnis, ob wir uns nicht mal wieder völlig verrannt haben

Sehe ich optimistischer, aber gut.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - La Vicu - 15.04.2015

Die Antworten auf meinen Beitrag zum Lombardschen Paradoxon haben mich ( den „Neuling“) gelinde gesagt überrascht, nicht nur, was die Anzahl und die Wucht betrifft, sondern auch in Hinblick auf Substanz und Präzision. Woher soll ich die Zeit nehmen, auf alles, was erwähnenswert wäre, zu antworten? Deshalb vorerst nur drei Statements:
 
1. Der Begriff des “Lombardschen Paradoxons“. ist doch offensichtlich sowohl in diesem Thread, als auch in der allgemeinen Diskussion um die Bedeutung der ischiokruralen Muskeln beim Sprint nur als Reminiszenz an die Historie dieses Fragenkomplexes zu werten und nicht in den Rang eines  biomechanischen Prinzips zu erheben.
Um das Paradoxe an der Funktion der ischiokruralen Muskeln (bzw. welcher zweigelenkiger Muskeln auch immer) zu erkennen, darf man nicht allein von Ursprung und Ansatz der Muskeln ausgehen, sondern muss beachten, dass eine Drehbewegung (in einem Gelenk) stets von einem Kräftepaar erzeugt wird, nämlich a) von der Kontraktionskraft des Muskels und b) von einer äußeren mechanischen Kraft, nämlich von dem Gelenkwiderstand und/oder einer Schwerkraftkomponenten und/oder einer Trägheitskraft und/oder einer Reibungskraft u.a. Die Größe der zutreffenden äußeren Komponente sowie ihr Kraftarm in Bezug zum untersuchten Gelenk bestimmen, ob eine Muskelkraft unter dem ihr zur Verfügung stehenden Kraftarm das untersuchte Gelenk beugen kann (= wie vielleicht bei flüchtigem Hinsehen erwartet) oder streckt (= wie nicht erwartet, paradox also).

2. Rätselhafte Redewendungen, Pauschalaussagen und  redundante Ausdruckweisen erschweren das Verständnis, wenn eigentlich Fachtermini gefragt sind:
„Ganz zufällig sind die Quadris der stärkste Muskelverbund der Beine und hauptsächlich für die Knie- und Beinstreckung verantwortlich.“
Wieso „Ganz zufällig….?“ Will der Autor da etwas andeuten? Aber was? Und was bedeutet „stärkster Muskelverbund“? Bezieht sich diese Aussage auf die maximale Kontraktionskraft am Muskel-Sehnenübergang, auf das effektive Drehmoment in einer bestimmten Gelenkwinkelstellung oder auf den während eines Kontraktionsvorganges produzierten Kraftstoß? Da gibt es erhebliche Unterschiede – auch im Vergleich zu anderen „Muskelverbünden“. Dabei ist vor allen Dingen der Faserdehnungsgrad in der interessierenden Gelenkwinkelstellung zu berücksichtigen. Und dieser ist für die „Quadris“ bei der im Laufe des Sprints bedeutsamen Kniewinkelstellung nicht so optimal! Und dann die Wortkombination „Knie- und Beinstreckung“! Gibt es etwa beides? Gleichzeitig oder nacheinander? Und „hauptsächlich“? Ach ja, da ist ja noch die Hüftbeugung zu bedenken – durch den langen Kopf des Quadrizeps, den M. rectus femoris!

3. Die vergleichende Morphologie ist in der Biologie ein anerkanntes Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnissen zur Struktur und Funktion des Bewegungsapparates und kennt keine Gewissensbisse, den Menschen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Schließlich wurde die Motorik des Menschen nicht mit der des Regenwurms verglichen. Da wären die Bedenken – je nach Fragestellung – angebracht. Das Känguru hingegen besitzt – exakt wie der Mensch, wenn auch in abweichender Form und Ausprägung – ein Sitzbein als Muskelursprung, ischiokrurale Muskeln, Schienbein und Wagenbeinköpfchen als Muskelansatz….. und bewegt sich in der exakt gleichen mechanischen Umwelt mit dem exakt gleichen Bewegungsziel: eine möglichst hohe Horizontalgeschwindigkeit zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Und dass der Mensch seine Ischios wenig in Anspruch nimmt, ist doch wohl nicht ernst gemeint. Da sollte man sich doch mal an die eigenen Ischios fassen, beim Stehen, beim Gehen, beim Laufen, beim Vorbeugen, beim Hinsetzen, beim Wiederaufstehen….. Da spürt man schnell: Ohne Ischios beim Menschen keine Fortbewegung, kein Gehen, kein Laufen, kein Treppesteigen…!


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - lor-olli - 16.04.2015

@ LaVicu
und noch einmal vielen Dank!
Es will scheinbar nicht in jeden Kopf, das FunktionsPRINZIPIEN nun mal "aus Prinzip" gleich sind, egal wo der Hebel ansetzt. Würde der Mensch sich nach wie vor vierbeinig fortbewegen, würden wir diese Diskussion vermutlich nicht führen, aber weil nicht sein kann was nicht sein darf, müssen die "Ischios" eben "paradox" arbeiten. (Dabei ist die Diskussion müßig, wenn man sich einen Menschen "auf allen vieren" vorwärts bewegen sieht - optimal und nüchtern natürlich Wink)
Lassen wir der Evolution noch ein wenig Zeit und sie wird sehr wahrscheinlich die menschliche Fortbewegung noch "feintunen", auch mit einer weiteren Anpassung des Skelettaufbaus.

Das ein genaues Studium des Bewegungsablaufes und des Funktionsprinzips auch in kleinen Details seinen Niederschlag in einem angepassten Training stattfinden sollte (hic Gertrude), sind wir der einzigen wirklich evolutioniären Einzigartigkeit derer wir uns bedienen können schuldig: dem Hirn und seiner Fähigkeit abstrahieren und dadurch erkennen zu können. 

Wir müssen aber auch erkennen, dass wir vielleicht nicht mehr die "Fluchttiere" sind, deren evolutionäre Entwicklung ausschließlich zu einem Maximum an Fluchtgeschwindigkeit führt, wir sind eben auch auf "effizientes Dauerlaufen" gepolt - und darin sind wir über längere Zeiträume gesehen deutlich besser (Schwitzen zur Kühlung, relative klimatische Unabhängigkeit, im Verhältnis zur Körpergröße erweitertes Blickfeld etc. - genug der Biologie)

Zurück zum Training: Hier gilt es eben dieser Besonderheit des menschlichen Skelettaufbaus und seiner Fortbewegung Rechnung zu tragen, ein Training beim Menschen sieht also zwangsläufig anders aus, als ein Training beim Pferd z.B. (In der speziellen Ausprägung des Trainings, nicht im Prinzip der gezielten Steuerung auf ein Ziel hin)


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 16.04.2015

(15.04.2015, 21:27)La Vicu schrieb: Dabei ist vor allen Dingen der Faserdehnungsgrad in der interessierenden Gelenkwinkelstellung zu berücksichtigen. Und dieser ist für die „Quadris“ bei der im Laufe des Sprints bedeutsamen Kniewinkelstellung nicht so optimal!

Und dann die Wortkombination „Knie- und Beinstreckung“! Gibt es etwa beides? Gleichzeitig oder nacheinander?
Wie sind denn die Verhältnisse der Quadris zu den Ischios in der in Rede stehenden Winkelstellung?
Die Ischios liefern dann ja wohl auch nicht das ihnen maximal Mögliche, oder?

Sowohl als auch(Konzert).
Über Fixierungen wurde hier auch schon gesprochen.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - La Vicu - 16.04.2015

(14.04.2015, 12:49)MZPTLK schrieb: Im Vergleich dazu traue ich vielen SprinterInnen mit einer verstärkten Armarbeit mehr Steigerungsmöglichkeiten zu.


Natürlich kommt ein kräftiger Armschwung der Sprintgeschwindigkeit zugute, aber nur dann, wenn die Gegenkraft zur Armbeschleunigung nach vorn durch den Fußkontakt nach hinten auf den Boden übertragen wird und somit zu einer Beschleunigung des Gesamtkörpers nach vorn beitragen kann. Und auf wem (welchen Muskeln) bleibt das letztlich hängen? Auf den Hüftstreckern, insbesondere den Ischios!


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 16.04.2015

Auch, das geht nur über die Kette von oben nach ganz unten.
Und neben den BM auch die mMn gleichwertigen FM nicht vergessen.
Macht zusammen Horizontal Mechanics mit einem gewissen Anteil Higher Mechanics, damit der Sprinter einerseits nicht zu sehr ins Springen kommt, andererseits nicht auf die Sch....fällt.
Und die Arme machen im Konzert eben auch alles nicht nur mit, sondern sollten in jeder Phase möglichst effektive Impulsgeber sein.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - La Vicu - 16.04.2015

(16.04.2015, 08:29)lor-olli schrieb: Lassen wir der Evolution noch ein wenig Zeit und sie wird sehr wahrscheinlich die menschliche Fortbewegung noch "feintunen", auch mit einer weiteren Anpassung des Skelettaufbaus.
Ja, das wäre wirklich zu wünschen, muss aber leider ein „frommer“ Wunsch bleiben! An welchen Selektionsvorteil sollte sich der Bewegungsapparat des künftigen Menschen denn auch anpassen? Und wie viel höher müsste die Fortpflanzungsrate der künftigen Olympiasieger im Sprint gegenüber den Nichtsprintern sein, um nach wie vielen Generationen auch immer einen nachhaltigen Evolutionsfortschritt des Bewegungsapparates des Menschen in die gewünschte Richtung erkennen zu können?  


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 16.04.2015

(15.04.2015, 21:27)La Vicu schrieb: Der Begriff des “Lombardschen Paradoxons“. ist doch offensichtlich sowohl in diesem Thread, als auch in der allgemeinen Diskussion um die Bedeutung der ischiokruralen Muskeln beim Sprint nur als Reminiszenz an die Historie dieses Fragenkomplexes zu werten und nicht in den Rang eines  biomechanischen Prinzips zu erheben.

„Ganz zufällig sind die Quadris der stärkste Muskelverbund der Beine und hauptsächlich für die Knie- und Beinstreckung verantwortlich.“
Sehr guter Post, vielen Dank!
'Ganz zufällig' kannste vergessen, das war eine (zu?) pampige Formulierung, sorry.
Mir gefällt Deine differenzert(er)e Betrachtung, wobei ich beim Beispiel Känguru immer noch nicht so richtig konform gehe.

Es wurde im Thread schon diskutiert, wo die Möglichkeiten und Grenzen von Biomech liegen, zum Beispiel bei den EMGs.
Insbesonders die tiefer sitzenden Muskelgruppen und der volle Sprint können nicht oder nur sehr unzulänglich erfasst und gemessen werden.
Und selbst wenn, hat die von Gertrud im Zusammenhang mit dem 'L.P.' erwähnte Befeuerung der äusseren Muskeln noch nicht die Qualität von Kausalität und Wirkungsweisen Huh.
Das bewegt sich strenggenommen noch in Bereich von Korrelation Huh .
Zum Beispiel bin ich der Meinung, dass die Befeuerung ganz oder überwiegend nicht autonom erfolgt. Huh

In der Diskussion mit V.B. hatte ich seine nmM sehr optimistische Einschätzung der energetischen Potentiale der Ischios im Vergleich zu den Quadris mit Vorsicht genossen. Die Quadris kommen von einem viel höheren Niveau, wo sie in der Evolution nun mal so hingewachsen sind.

Aber wie auch immer, jedenfalls man sollte die Potentiale Ischios mehr 'herauskitzlen', aber immer mit einem sehr sensiblen und wachsamen Auge, um Verletzungen und Störungen des Muskelkonzerts zu vermeiden.
Bei anderen Disziplinen(Wurf) kann man viel mehr muskuläre Dysbalancen auftrainieren als beim Sprint, ohne dass es kontraproduktiv oder gefährlich wird.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - La Vicu - 16.04.2015

(16.04.2015, 12:24)MZPTLK schrieb: Auch, das geht nur über die Kette von oben nach ganz unten.
Und neben den BM auch die mMn gleichwertigen FM nicht vergessen.
Macht zusammen Horizontal Mechanics mit einem gewissen Anteil Higher Mechanics, damit der Sprinter einerseits nicht zu sehr ins Springen kommt, andererseits nicht auf die Sch....fällt.
Und die Arme machen im Konzert eben auch alles nicht nur mit, sondern sollten in jeder Phase möglichst effektive Impulsgeber sein.
Also, tut mir sehr leid - vielleicht, weil ich hier Neuling bin! Aber mit diesem Kraut-und-Rüben-Gefasel kann ich absolut nichts anfangen. Darin steckt nicht die Spur einer logisch nachvollziehbaren Argumentation - Philosophie offensichtlich!


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 16.04.2015

Danke für die Blumen.
Wollte mich nur allgemeinverständlich ausdrücken.
Back Mechanics, Front Mechanics,
mMn. meiner (unmassheblichen) Meinung nach.
In Deinen Augen scheint Philosophie was für Unbedarfte oder des Teufels zu sein.
Hast mich überzeugt, ich werde das Gefasel jetzt sein lassen und 'exakter' Big Grin Wissenschaftler Idea werden.