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Lombardsches Paradoxon - theoretische Erörterung - Druckversion

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RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Gertrud - 18.04.2015

(18.04.2015, 10:50)MZPTLK schrieb: 'Menschen haben das Problem, durch das erlernte Wissen und Erfahrung vorgeprägt zu sein,
und werden automatisch in bestimmte Denkrichtungen gedrängt.
Wenn aber die ideale Lösung nicht in ihrem Denkmuster vorhanden ist, können sie die ideale Lösung auch niemals finden...

Man sollte nicht krampfhaft an hergebrachten Lösungen festhalten. Jede/r Trainer/in ist mehr oder weniger in einem bestimmten Gedankengut "gefangen". Man sollte offen für neue Dinge sein, die wir noch nicht auf dem Schirm haben. Es kann gut sein, dass das Übungspotential vom sogenannten LP irgendwann überarbeitet wird, weil man etwas übersehen oder einfach ganz neue Ergebnisse erzielt hat. Man muss sich sicherlich die Frage stellen, woran es liegt, dass man allgemein Quadrizeps - Ischios im Kraftverhältnis 3:2 an bestimmten Maschinen vorliegen hat und dieses Verhältnis sich aber bei ausgefeiltem Training im Sprintbereich verändert? Diese generelle Quantifizierung findet aber eigentlich in der Bewegung nicht zu jedem Zeitpunkt des Sprints statt, wenn man sich die EMG anschaut, so dass man eigentlich die Tests am Cybex z. B. "in die Tonne kloppen" kann. Zu diesen globalen Zahlen spielt die individuelle Anatomie sicherlich auch noch eine wichtige Rolle. Folglich ist das Thema eigentlich ganz exakt nicht fassbar. Zudem kommen noch die unterschiedlichen Beinpositionen interdisziplinär dazu. 

Gertrud


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - La Vicu - 18.04.2015

Angeregt durch die informativen Abbildungen von ThomZach zur Hochsprungtechnik habe ich - getreu dem Motto: „Anschauung ist die Mutter aller Wissenschaft“ – zum Thema „Lombardsches Paradoxon“ eine Abbildung erstellt. Diese zeigt:
a) eine zweigliedrige freie kinematische Kette mit einem zweigelenkigen Muskel (rot),
b) eine Verkürzungs-Kontraktion des zweigelenkigen Muskels sowie die daraus resultierenden („erwarteten“) Drehbewegungen (grüne Pfeile) der Kettenglieder,
c) eine zweigliedrige freie kinematische Kette mit einem zweigelenkigen Muskel (rot), das distale, „freie“ Ende unterliegt einer „Führung“ durch eine äußere mechanische Kraft (Reibungskraft, Trägheitskraft, Schwerkraft, Stützreaktion ….), symbolisiert durch einen schraffierten Block,
d) eine Verkürzungs-Kontraktion des zweigelenkigen Muskel (rot) bei „geführtem“ distalem Ende der kinematischen Kette sowie die daraus resultierenden erwarteten (grün) und unerwarteten (paradoxen, rot) Drehbewegungen der Kettenglieder.

Es soll verdeutlicht werden, dass eine paradoxe Bewegung unter der Voraussetzung auftritt, dass mindestens eine zweigliedrige kinematische Kette mit einem zweigelenkigen Muskel gegeben sein muss, wobei das Drehmoment des Muskels im proximalen Gelenk größer sein muss als im distalen Gelenk, um im distalen Gelenk eine paradoxe Drehbewegung erzeugen zu können. Dies funktioniert unabhängig davon, ob eine zweite kinematische Kette auf der Gegenseite des Systems vorhanden ist und synchron (s. Känguru) oder gegengleich (s. Sprint) agiert oder sogar mehrere Ketten wie auch immer zeitgleich agieren (s. Vierfüßergang).

Weiterhin wird demonstriert, dass
e) der zur Kniestreckung führende Effekt bei aufgerichtetem Becken niedriger ist als
f) bei einem vorgekippten Becken und
g) bei einer „flachen“ Beckenform niedriger als bei „tiefer“ Beckenform (s. e und f).

[attachment=169]

edit mod: Bilddatei repariert und in diesen Beitrag eingefügt, separates Bildposting gelöscht


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 18.04.2015

(18.04.2015, 12:13)Gertrud schrieb: Man muss sich sicherlich die Frage stellen, woran es liegt, dass man allgemein Quadrizeps - Ischios im Kraftverhältnis 3:2 an bestimmten Maschinen vorliegen hat und dieses Verhältnis sich aber bei ausgefeiltem Training im Sprintbereich verändert?
Wie ist 3:2 zu verstehen?
Wie stellt sich die Veränderung bei 'ausgefeiltem'(wie, was?) Training dar?


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Gertrud - 18.04.2015

(18.04.2015, 13:00)MZPTLK schrieb:
(18.04.2015, 12:13)Gertrud schrieb: Man muss sich sicherlich die Frage stellen, woran es liegt, dass man allgemein Quadrizeps - Ischios im Kraftverhältnis 3:2 an bestimmten Maschinen vorliegen hat und dieses Verhältnis sich aber bei ausgefeiltem Training im Sprintbereich verändert?
Wie ist 3:2 zu verstehen?
Wie stellt sich die Veränderung bei 'ausgefeiltem'(wie, was?) Training dar?

Die Kräfteverhältnisse wurden meistens an der Leg-Extension-Maschine gemessen: Kraft (Isokinetik) Oberschenkel hinten - vorne, und dann kam ein Verhältnis 2:3 heraus. Bei guten Sprintern ist das Verhältnis zu den Ischios verschoben. Fragt mich jetzt bitte aber nicht nach den Quellen! Das waren Werte so über den Daumen gepeilt. 

Man findet in der Literatur aber unglaublich unterschiedliche Angaben des HQ-Verhältnisses (hamstring - quadrizeps) vom mittleren Quotienten hinsichtlich Stärke von 62%-63% und andere Angaben von 42%-85% beim gesunden Knie und höhere Werte beim verletzten Knie, wobei es bei unterschiedlichen Verfahren teilweise noch geschwindigkeitsabhängig ist.

Gertrud


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 18.04.2015

(18.04.2015, 14:14)Gertrud schrieb: Die Kräfteverhältnisse wurden meistens an der Leg-Extension-Maschine gemessen: Kraft (Isokinetik) Oberschenkel hinten - vorne, und dann kam ein Verhältnis 2:3 heraus. Bei guten Sprintern ist das Verhältnis zu den Ischios verschoben. Fragt mich jetzt bitte aber nicht nach den Quellen! Das waren Werte so über den Daumen gepeilt. 

Man findet in der Literatur aber unglaublich unterschiedliche Angaben des HQ-Verhältnisses (hamstring - quadrizeps) vom mittleren Quotienten hinsichtlich Stärke von 62%-63% und andere Angaben von 42%-85% beim gesunden Knie und höhere Werte beim verletzten Knie, wobei es bei unterschiedlichen Verfahren teilweise noch geschwindigkeitsabhängig ist.
Ich habe keine Ahnung, was die Literatur sagt.
Wenn das alles sein sollte, was die Literatur hergibt, kann man das aus mindestens 4 Gründen als nicht massgeblich bezeichnen:
- weil die Leg-Extension-Maschine nicht annähernd die Sprintberwegung abbildet.
- weil die Arbeit der Muskulatur beim Sprint ein grosses Stück von Isokinetik entfernt ist.
- weil das Verhältnis 2:3 infrage zu stellen ist, weil die Quelle nicht bekannt ist und damit auch nicht die Frage beantwortet werden kann,
   in welchem Winkelbereich bewegt, bzw. gemessen wurde - das muss nicht identisch sein.
- weil die Beugewerte keine 1:1 Rückschlüsse auf die beim 'LP' möglicherweise wirkenden Kräfte der Ischios zulassen.

Das einzige, was ich glaube und wo ich schon immer sicher war,
ist, dass das Verhältnis bei guten Sprintern zugunsten der Ischios verschoben ist.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - Gertrud - 18.04.2015

(18.04.2015, 20:03)MZPTLK schrieb: Das einzige, was ich glaube und wo ich schon immer sicher war,
ist, dass das Verhältnis bei guten Sprintern zugunsten der Ischios verschoben ist.

Ja, die Angaben sind leichtathletisch sehr unpräzise und entsprechen nicht dem Einsatz. Da gibt´s noch viel zu tun, zumal diese Werte im Sitzen absolut nicht unserer Anforderung entsprechen. Sie scheinen wohl den vollen ROM genommen zu haben. Schönen Gruß ans Knie! Thumb_down

Ich habe mal in einem Studio vor nicht allzu langer Zeit einen Rücken- und Bauchtest gemacht. Beim Rückentest (Stand: Druck gegen einen Widerstand - volle Pulle) habe ich sofort aufgehört, weil ich um meinem Kopf wegen des Blutdruckanstiegs besorgt war. 

Gertrud


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 18.04.2015

(18.04.2015, 12:58)La Vicu schrieb: Angeregt durch die informativen Abbildungen von ThomZach zur Hochsprungtechnik habe ich ...zum Thema „Lombardsches Paradoxon“ eine Abbildung erstellt....

Weiterhin wird demonstriert, dass
e) der zur Kniestreckung führende Effekt bei aufgerichtetem Becken niedriger ist als
f) bei einem vorgekippten Becken und
g) bei einer „flachen“ Beckenform niedriger als bei „tiefer“ Beckenform (s. e und f).
Vielen Dank, die Bedeutung der unterschiedlichen Vertäuung ist prinzipiell klar und wurde von mir auch schon mal erwähnt, diese Illustration macht es deutlich.
In früheren Postings wurde von dem einen oder anderen User unterstellt oder behauptet, dass die Vertäuung unterhalb des Knies weiter vorn oder sogar vor der Knieachse läge. Dies hatte ich ausgeschlossen, schön, dass Deine Illustration das auch zeigt.

b)+c) waren auch schon klar, es hängt von der Arretierung am Boden ab, ob sogenannte paradoxe Wirkungen geschehen.
d) ist die entscheidende Phase, hier haben wir die Arretierung und die - im grossen Winkel versus 175 Grad - von beiden Vertäuungsrichtungen wirkenden Kräfte. Man könnte es Impander-Effekt nennen.

Diese Kräfte wirken nicht nur Knie-streckend, sondern gleichzeitig auch als US- und Fuss-Beschleuniger.

Ich kann immer noch nicht erkennen, was da paradox ist.

Man muss sich in dem Zusammenhang klarmachen, dass die Bodenkontaktzeit bei Topsprintern um die 1/10 Sekunde beträgt.
Die Befeuerung und die MaxWirkung liegen irgendwo darunter, darum wird oft versucht, mit Vorspannung zum Boden zu 'peitschen'.
Das sehe ich als bedenklich und auf Dauer gefährlich an, vor allem für die untere Vertäuung, aber auch für die Achillessehnen.

Die Frage ist, wieviel das bringt.
Nach meinen Schätzungen beim 100-Meter-Lauf wohl um die 10-15 Hundertstel, wobei nur der Abschnitt etwa zwischen 40 und 90 m relevant ist.
Das hängt von vielen Faktoren ab, auch von individueller Beckenform und -Stellung, vom unteren Ansatz, von der Schnelligkei und Intensität der Befeuerung, vom Zusammenspiel des ganzen Muskel-Orchesters.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - La Vicu - 19.04.2015

(18.04.2015, 21:01)MZPTLK schrieb: Man muss sich in dem Zusammenhang klarmachen, dass die Bodenkontaktzeit bei Topsprintern um die 1/10 Sekunde beträgt.
Die Befeuerung und die MaxWirkung liegen irgendwo darunter, darum wird oft versucht, mit Vorspannung zum Boden zu 'peitschen'.
Das sehe ich als bedenklich und auf Dauer gefährlich an, vor allem für die untere Vertäuung, aber auch für die Achillessehnen.

Zur Bodenkontaktzeit: o.k., in der Regel wohl 80 – 90 ms.
Aber was soll das nächste denn bedeuten? Was ist die „Befeuerung“? Soll das die elektrische Aktivität der Muskelfasern sein? Soll diese unter dem Wert von 1/10 s liegen? Die elektrische Aktivität der ischiokruralen Muskeln beginnt etwa gegen Ende des Kniehubes und dauert in nahezu konstanter Intensität bis nach dem Ende des Fußkontaktes, also etwas mehr als doppelt so lang wie der Fußkontakt. In diese Zeitspanne besorgen die Ischios das Strecken der Hüfte zum Fußkontakt, das Durchziehen des Stützbeines unter dem Körper hindurch sowie das beginnende Anfersen. Und was ist mit „MaxWirkung“ gemeint? Wer oder was wirkt und worauf wirkt es? Die Vortriebswirkung der Kraft der Ischios (horizontal nach hinten gerichteter Kraftvektor) auf den Gesamtkörper beginnt in dem Moment, in dem der Fuß den Boden berührt und hält während der gesamten Bodenkontaktzeit an. Je höher die rückwärts gerichtete Bewegungsgeschwindigkeit des Fußes zu Beginn der Stützphase (oder sogar kurz vorher), desto größer der von diesem Kraftvektor gebildete Kraftstoß (= Kraft mal Wirkungszeit der Kraft) zur Vorwärtsbeschleunigung. Also: aktiv Peitschen! Was soll daran gefährlich sein?


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - MZPTLK - 20.04.2015

Unter 1/10 ist bisher nicht die Regel, man geht aber davon aus, dass es in Richtung 7-8 Hundertstel gehen sollte, um noch schneller zu sein. Einige Topleute kommen (fast) dahin, was aber nicht heisst, dass andere mit 10 oder etwas mehr langsamer sind oder sein müssen.

Die elektrische Aktivität der Ischios beginnt natürlich um das Ende des Kniehubs herum, aber ich glaube nicht an eine (nahezu) konstante Intensität, weder empirisch noch als Zielvorgabe.

Ich gehe von einer Maxwirkung während der Stützzeit aus, wobei ich eine rückwärts gerichtete Bewegungsgeschwindigkeit von Null plus Etwas bezogen auf den Erstkontakt am Boden für optimal halte.
V.B. hatte das auch als Zielvorgabe erwähnt, wenn ich ihn richtig verstanden habe.

Meiner Meinung nach ist ein aktives Peitschen über diese Vorgabe hinaus
nicht sehr zielführend, weil es wenig konzentrisch wirkt.
Zudem könnte es auf Dauer zu Verletzungen von Muskeln und Sehnen der hinteren Beinseiten(v.a. Kniekehlen, AS...) kommen.

Ich lasse mich aber gern eines Anderen, hoffentlich dann auch Besseren belehren.


RE: Lombardsches Paradoxon und Konsequenzen fürs Training - La Vicu - 20.04.2015

(20.04.2015, 08:43)MZPTLK schrieb: Die elektrische Aktivität der Ischios beginnt natürlich um das Ende des Kniehubs herum, aber ich glaube nicht an eine (nahezu) konstante Intensität, weder empirisch noch als Zielvorgabe.

Ich gehe von einer Maxwirkung während der Stützzeit aus, wobei ich eine rückwärts gerichtete Bewegungsgeschwindigkeit von Null plus Etwas bezogen auf den Erstkontakt am Boden für optimal halte.

 
Ob man in dieser Fragestellung mit Glauben oder eigenen Meinungen weit kommt, ist die Frage. Das gehört für einen Naturwissenschaftler eher in die Rubrik „Hypothese“, die auf eine empirische Verifizierung hofft. (Im Übrigen: „… aber ich glaube nicht … weder empririsch noch …“ ! Kann man empirisch glauben? Das wäre zwar keine Paradoxon, aber ein Oxymoron!)

Die Intensität der elektrischen Aktivität verschiedener Muskeln beim Sprint ist schon seit Jahren bestens untersucht. Ein eindrucksvolles Elektromyogramm der Sprintmuskelaktivitäten wurde schon 1981 von Mero & Komi veröffentlicht (s. beigefügte Abbildung aus: MERO, ANTTI; KOMI, PAAVO V.: Electromyographic activity in sprinting at speeds ranging from sub-maximal to supra-maximal. In: Med Sci Sports Exerc. 1987 Jun;19 (3):266-74. ). Der Biceps femoris als Vertreter der Ischios zeigt eine kompakte Aktivität von der Mitte der Flugphase fast bis zum Ende der Stützphase, wie sie für ballistische Muskelaktionen typisch ist. Bei einem elektromechanical delay (EMD) von 30 bis 50 ms kommt die mechanische Wirksamkeit für das Herabschlagen und Durchziehens des Stützbeines gerade richtig. Auch die EMGs der übrigen Muskeln sind sehr aufschlussreich.

Fazit: Bevor man das Zusammenspiel des ganzen Muskels-Orchesters bemüht, tut es gut, die Fertigkeiten der tragenden Instrumente (Pauke, 1. Geige, Querflöte…) zu überprüfen.

p.s. Das Bild schicke ich mit einer zweiten Antwort, damit es nicht zu unscharf wird.