(14.05.2016, 20:36)icheinfachma schrieb: Eine Frage stelle ich mir immer wieder, und ich habe bisher weder in der Forschungsliteratur, noch in den praktischen Erfahrungen der Weltklassesprinter eine Antwort finden können: Lässt sich die Kraft aus dem Krafttraining wirklich besser in den Sprint übertragen, wenn man versucht, die entsprechenden Muskelaktivitäten möglichst exakt im Krafttraining wiederzuspiegeln? Die Sache ist ja z.B., dass das Sprinten sowieso von angeborenen Reflexen gesteuert wird; im EMG finden sich z.B. keinerlei Hinweise auf Dehnungsreflexe bzw. Reaktivkraftaktivität von exzentrisch belasteten Muskeln (Ischios beim Auspendeln des US; Quadriceps / Waden im Stütz; Hüftbeuger beim Abbremsen der Hüftstreckung nach Bodenkontaktverlust), sondern die Quadrizeps und Waden kontrahieren schon vor Bodenkontakt, um die entsprechende Muskelspannung rechtzeitig aufzubauen. Auch die Ischios kontrahieren durchweg die ganze Hüfttreckung über mit großer Intensität und nciht erst ab dem Auspendeln.
Wenn man exakt ist, dann sollte man zwischen den einzelnen Anteilen der Hamstrings unterscheiden, weil sie unterschiedlich anspringen. Die höchste Verletzungsgefahr betrifft den biceps femoris in der späten Schwungphase und zwar im Epimysium, im tendinösen und myotendonösen Bereich. Folglich sollten wir auch alle Strukturen beim Training beachten und einbeziehen. Am wenigsten sind die Hamstringanteile übrigens im zweiten und dritten Drittel der frühen Schwungphase EMG-mäßig aktiv. Der biceps femoris ist wegen seiner lateralen Lage, seiner anatomischen Struktur hinsichtlich seiner "Zweibäuchigkeit", seiner dualen Innervation und seiner speziellen Fiederung und deren Winkel speziell trainingsmäßig gefordert und auch gefährdet. Es ist doch sonnenklar, dass er auch in dieser Form kraftmäßig zu unterstützen gilt. So ahmt eine Übung wie die Nordic-Hamstring-Übung die besonderen Winkel der Gefährdung absolut nicht nach. In den meisten "typischen" Hamstringübungen wird an den muskulotendinösen Bedürfnissen vorbeitrainiert, also keine Verletzungsprävention beachtet. Im Gegenteil: Sie erzeugen meiner Ansicht nach sogar ein Ungleichgewicht hinsichtlich sprintmäßiger Akzentuierung.
Wiemann führt auch die Ischios insgesamt im EMG-Progamm auf und differenziert nicht zwischen den einzelnen Anteilen, während Komi schon in den 80er Jahren den vastus lateralis, den rectus femoris und biceps femoris u.a. aufführt. Der vastus lateralis springt vor dem vastus medialis und danach vor dem rectus femoris vor dem Bodenkontakt an. Es ist sehr seltsam, dass der quadriceps an der leichten Kniestreckung in der späten Bodenkontaktphase nicht mehr beteiligt ist. Diese paradoxe Situation wird mit der elektromechanischen Verzögerung erklärt. Der gastrocnemius beendet als letzter Muskel seine Kniestreckarbeit. Es gibt trainingmäßig vor allem bezüglich der Verletzungsprophylaxe des Komplexes noch viel zu tun, zumal z. B. die deutschen Untersuchungen natürlich auch deutsche Probanden getestet hat, die nicht das Technikbild eines Usain Bolt zeigen, der völlig anders bei näherer Betrachtung sprintet und seine Strukturen einsetzt.
Es ist für mein Verständnis von Übungsinnovationen und Verantwortlichkeit für Verletzungen klar, dass ein enormer Wissensfundus zum Trainergeschäft gehört, wobei die meisten Trainer diese Voraussetzungen nicht haben und daher immer wieder auf "alt bewährte" Übungen zurückgreifen und daher auch Verletzungen am Fließband produzieren. Letztens sagte ein ehemaliger Trainer aus dem gehobenen Bereich zu mir: " Es ist klar, dass man dich bei Fortbildungen nicht gerne hat, weil du mit jedem Satz den Finger in die Wunden legst. Man will seine Ruhe haben und sich diese Gedanken gar nicht machen."
Gertrud