(04.06.2014, 15:07)lor-olli schrieb: Ich habe beim Zusammenspiel der Begriffe Ethos und Kalkül immer gewisse Bedenken, das Kalkül nimmt streng genommen keine Wertung vor. So stellt im mathematischen Sinne der calculus (Spielstein) ein wertneutrales Objekt dar, das Kalkül zieht aus den Objekten logische Schlüsse (die gleichwohl im Bewusstsein menschlichen Verhaltens paradox scheinen / scheinen können – menschliches Verhalten hat nun mal eigene, nicht immer logische Regeln )Das Kalkül muss immer mit (Be-)Wertungen, also Entscheidungskriterien arbeiten, und seien sie noch so schwach- oder widersinnig.
Wie sehr Kalkül und (ethische) Be-Wertungen korrespondieren, kann man anschaulich am Beispiel Ökonomie versus Ökologie darstellen.
Bis vor wenigen Jahren glaubte man, dass es unökonomisch sei, in (ethische)ökologische Projekte und Unternehmen zu investieren, das lohne sich nur mithilfe von Subventionen.
Mittlerweile rechnen sich viele Projekte sehr gut, Warren Buffet hat vor 2 Jahren über 2 Milliarden in den weltgrössten Solarpark investiert. Und immer mehr Akteure erkennen, dass das Ausbeuten unwiderbringlicher Ressourcen nicht nur unethisch/antiökologisch ist, sondern immer unwirtschaftlicher, und dass die 'ethische', nachhaltige Wirtschaft immer ökonomischer, also lukrativer wird.
Inzwischen werben die grossen Geldhäuser und die vormaligen DreckKonzerne offensiv mit Ethik und Ökologie, als hätten sie das erfunden und schon immer praktiziert.
Dein interessanter Gedanke ist auch vor allem in den letzten Jahren durch die Finanzturbulenzen vielen Menschen anschaulich geworden:
Es wurde nämlich der homo oeconomicus als Arbeitshypothese ad absurdum geführt: angeblich agierten an den Finanzmärkten jederzeit rationale, egoistische, gleich informierte natürliche und juristische Personen, so dass es - nach zwischenzeitlichen Volatilitäten - immer wieder zur Balance effizienter Märkte kommen sollte.
Zigtausende Wirtschaftsstudenten haben sich dieses Glaubensbekenntnis in die Köpfe gekloppt.
Sie haben Rechnen, aber nicht Denken gelernt.
Oftmals genügte ihnen oder den Marktteilnehmern auch die Extrapolation historischer Performances, um Voraussagen oder Anlageentscheidungen zu treffen.
Die Finanzkrise hat tausende hochbezahlte Ökonomieprofessoren irritiert und ihnen drastisch vor Augen geführt, dass die Akteure extrem unterschiedliches Wissen und mehr oder weniger privilegierten Zugang zu Informationen haben, und dass sie trotz besseren Wissens oftmals nicht rational und paradoxerweise sogar wider eigene Interessen handeln.
Jahrzehntelang setzen deutsche Anleger jährlich um die 50 Milliarden in den Sand, weil sie auf Betrügereien hereinfallen. Gier frisst Hirn.
Aber auch übervorsichtige, konservative Anleger nehmen wider besseren Wissens und sehenden Auges Verluste in Kauf, indem sie durch die grassierende Finanzrepression Jahr für Jahr Milliarden verlieren(wie schön für den Staat! Aber macht der Staat mit dem Geld auch ethisch wertvolle Dinge? ).
Das (ver-)kalkulieren im calvinistischen oder altruistischen oder gar keinem Sinne ist alltäglich.