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Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - Druckversion

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RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - icheinfachma - 16.07.2018

Ich möchte mal was zu den Nordic Ham Curls einwerfen:

Es ist allgemein bekannt, dass man bei supramaximalen exzentrischen Kontraktionen, also bei Gewichten, die so hoch sind, dass man sie nicht statisch halten kann, sondern in eine exzentrische Kontraktion gezwungen wird (120-150% 1RM) mehr Kraft entwickelt, als bei normalen Kontraktionen. Bisher hat man das auf eine erhöhte Rekrutierung motorischer Einheiten durch Dehnungsreflexe zurückgeführt. Man ist davon ausgegangen, dass man bei solchen exz. Kontraktionen alle motorischen Einheiten des Muskelns rekrutieren, also seine Absolutkraft entfalten kann, während man bei normalen Kontraktionen nur die willkürliche (konzentrische oder statische) Maximalkraft hat. Die Differenz aus konzentrischer / statischer Fmax und exzentrischer Fmax wurde dann als Maß für die autonome Reserve, also die nicht willkürlich rekrutierbaren motorischen Einheiten gewonnen - also als Maß, wie gut der Athlet hinsichtlich intramuskulärer Koordination austrainiert ist.

Neuere Forschungen zeigen allerdings noch etwas anderes: Man hat Myofilamente aus Muskelfasern isoliert und dann gedehnt, also exzentrisch belastet. Man hat sie soweit gedehnt, dass sich Aktin und Myosin nicht mehr überlappen. Somit kann keine aktive Kontraktion im Sinne von Querbrückenzyklen mehr stattfinden. Trotzdem ist in dieser Dehnung eine von den Filamenten ausgehende Kraft gemessen wurden, die dem Vierfachen der Titin-Ruhespannung entspricht. Das heißt, dass das Titin unter starker Dehnung anfängt, große Kräfte zu entwicklen, die es sonst nicht entwickelt. Zwei Ursachen kämen dafür infrage: Entweder eine Calciumanlagerung an das Titin, die zu Konformationsänderungen führt oder eine Konformationsänderung durch die mechanische Einwirkung selbst.

Im Endergebnis heißt das, dass die großen Kräfte nicht nur oder überhaupt nicht durch verstärkte motorische Rekrutierung, sondern durch oder auch durch eine Konformationsänderung des Titins unter Zug mit damit einhergehender Krafterhöhung desselben zustandekommen. Wenn man das mit anderen Erkenntnissen kombiniert, die dahin gehen, dass verschiedenen Titinformen je nach Krafttrainingsart exprimiert werden, heißt dass, dass sich das Titin wahrscheinlcih ganz speziell an diese starken exzentrischen Belastungen anpasst, wenn man exzentrisch trainiert. Infrage kommen desmodromisches Training (exzentrisches Maxkrafttraining) und Reaktivkrafttraining. Ersteres wird mittlerweile von immer mehr Leuten gemacht, letzteres noch nicht, ich habe allerdings drei selbstkonstruierte Übungen für Reaktivkrafttraining der Ischios. Das ist noch spezifischer als exz. Maxkraft.

Wenn also diese Anpassungen nicht auf neurophysiologischer bzw. neuromotorischer Ebene, sondern auf molekularer bzw. histologischer Ebene passieren, dann hat man diese Anpassungen auch, wenn man nicht die richtigen Pattern im Krafttraining ansteuert. Dann kann man auch Nordic Ham Curls machen, hat die Titinveränderungen und eine verringerte Verletzungsgefahr plus mehr Leistungsfähigkeit. Natürlich werden winkelabhängig unterschiedliche Anteile unterschiedlich stark belastet, sodass eine winkelspezifischere Übung besser wäre. Ich würde aber nicht sagen, dass Nordic Ham Curls gar keine Wirkung haben, weil sie die falschen Pattern unterstützen, sondern dass sie lediglich die Anteile nciht ganz exakt treffen. Dass sie die Verltzungen verringern und die Leistung steigern, ist ja wissenschaftlich evident und auch in der Praxis hat es sich so gezeigt.

Mein Vorschlag: Eine mögliche Übung ist, die Nordic Ham Curls auszuführen, aber nicht mit einer Hüftbeugung von konstant 0° (wie üblich), sondern konstant 45° Hüftbeugung. Schon hat man die Anteile wie im Sprint dank ähnlicher Gelenkwinkel. Es gibt noch mehr Übungen, die winkelspezifisch sind und die man sich selbst konstruieren kann, wenn man Zeit hat.


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - icheinfachma - 17.07.2018

Was den Startbeitrag des Threaderstellers angeht:

Da kann ich mich beity anschließen - lieber als Frage formulieren, was man nicht genau weiß. Die wichtigsten Punkte kommen in dem Text gar nicht vor, auch die Aussagen zum Krafttraining stimmen nicht. Man kann im Mittelstreckenlauf (und das wird auch praktiziert, so wahr ich selbst Mittelstrecke trainiere Wink ‌) mit außerordentlichen Gewichten trainieren, ohne zuzunehmen. Solange man keine positive Kalorienbilanz in der Ernährung hat, kann man vom Krafttraining nicht zunehmen, wohl aber neuromuskuläre Anpassungen und Titinveränderungen und Knochen-, Band- und Sehnenfestigkeitszunahmen erreichen. Man führt in bestimmten Phasen z.B. maxkraftorientiertes Schnellkrafttraining mit 70-80% 1RM mit 4-6 Wdh. aus, und es wird in den USA auch Komplextraining (z.B. schweres Kreuzheben mit anschließenden Abläufen) trainiert. Das sind Dinge, die man bis 5000m machen kann.

Zudem kann man mit Krafttraining einen niedrigeren KFA erreichen als nur durch laufen wegen des Testo-Ausstoßes durch schweres Krafttraining. HIIT (hochintensives Intervalltraining) führt auch zu einem Testosteron- und GH-Ausstoß, aber der Testosteronausstß ist geringer (der GH-Ausstoß jedoch höher) als bei maxkraftorientiertem Training.

Wichtig ist, dass die kurzen Fußmuskeln, die Unterschenkelmusklen in allen vier Bewegungsrichtungen des Sprunggelenks, die Hüftmuskeln (insb. Gluteus medius / minimus etc.) und die unteren Rumpfmuskeln trainiert werden. Das ist relvant für alles ab Knie abwärts. Ferner sind die oberen Rückenmuskeln und Schulteraußenrotatoren zu trainieren. Dazu kommt dann das Ischiotraining, dass hier hoffentlich noch im Detail diskutiert werden wird und sich am Sprint orientieren kann.

Was du zu Ernährung und Regeneration geschrieben hast, ist auch mit Vorsicht zu genießen. Die wirklich wichtigen Ernährungspunkte fehlen (Stichwort entzündungshemmende Ernährung) und Eisbäder sind auch nciht per se sinnvoll - man kann gewollte Entzündungen im Muskel unterdrücken (=schlecht) oder ungewollte überschießende Entzündungen in den Sehnen hemmen (=gut). Es kommt also auf einen sinnvollen und differenzierten Einsatz von Kälteanwendungen an. Das Thema Ernährung / Regeneration sit eine Wissenschaft für sich und passt vom  Umfang her kaum mehr in diesen Thread.


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - Gertrud - 17.07.2018

Bei uns ist immer noch die Kraftausdauer beliebt, wie ich letztens noch hörte.  Angry ‌Sie geistert auch durch die Physiotherapie-Fortbildungen. Meine Nachbarin, eine Physiotherapeutin, hat letztens noch an einer solchen Fortbildung teilgenommen. 

Gertrud


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - Atanvarno - 17.07.2018

Danke an icheinfachma für die Erläuterung zu den NHC Thumb_up

Entzündungshemmende Ernährung hatte ich an anderer Stelle ja schon mal kurz angerissen (Omega 3:6 Verhältnis sehe ich da an zentraler Stelle)


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - Atanvarno - 17.07.2018

(17.07.2018, 00:01)icheinfachma schrieb: Man kann im Mittelstreckenlauf (und das wird auch praktiziert, so wahr ich selbst Mittelstrecke trainiere Wink ‌) mit außerordentlichen Gewichten trainieren, ohne zuzunehmen.

Auch im Langstreckenlauf: Jordan Hasay beim Box Squat und Rack Pull mit nicht unerheblichen Gewichten

https://www.instagram.com/p/BUdXfL6gYLk
https://www.instagram.com/p/BZeCdMRH_Vf


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - Gertrud - 17.07.2018

(17.07.2018, 07:42)Atanvarno schrieb:
(17.07.2018, 00:01)icheinfachma schrieb: Man kann im Mittelstreckenlauf (und das wird auch praktiziert, so wahr ich selbst Mittelstrecke trainiere Wink ‌) mit außerordentlichen Gewichten trainieren, ohne zuzunehmen.

Auch im Langstreckenlauf: Jordan Hasay beim Box Squat und Rack Pull mit nicht unerheblichen Gewichten

https://www.instagram.com/p/BUdXfL6gYLk
https://www.instagram.com/p/BZeCdMRH_Vf

Man muss zwischen qualitativem und quantitativem Krafttraining unterscheiden (siehe auch Sabine Braun im Mehrkampfbereich ohne viel Massenzuwachs wie beim Mittelstreckentraining!!!). Es bleibt bei diesen Bereichen im "richtigen" Krafttraining zudem ein Sehnenschutz vorhanden, weil ein Dickenwachstum dieses Bindegewebes angeschoben wird.
An einfachichma: Quelle einer Studie für höhere Kraftproduktion bei Nicht-Überlappung von Aktin und Myosin im erweiterten exzentrischen Bereich?!

Gertrud


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - frontrunner800 - 17.07.2018

Natürlich ist das Krafttraining als Trainingsmittel im Mittelstreckentraining von großer Relevanz und spätestens seit Coe, der dies immer herausgestrichen hat, ist dies Allgemeingut in der Trainingslehre. Kurz gesagt, liegt der Gewinn erstens in der Verbesserung der Schnelligkeit (die im Mittelstreckenlauf sehr bedeutsam ist) und zweitens in der Prävention von Verletzungen. Aber immer gilt: Das Krafttraining ist angemessen auszuführen und es darf nicht zum Selbstzweck werden. Sicherlich ist es ratsam, hier und da auch mit hohen Gewichten bei nieriger Wiederholungszahl zu arbeiten, aber eben nicht in erster Linie. Zu bedenken ist, dass Mittelstreckler vom Körperbau in der Regel eher schlanker sind und ein übertiebenes Krafttraining mit zu hohen Lasten dann kontraproduktiv wird, weil das Risikio, sich zu verletzen stark ansteigt. Sebastian Coe hat bei einer Körpergröße von 1,76m 59 Kilo gewogen – ein Fliegengewicht. Trotzdem hat er zum Kraftaufbau bei einigen Übungen auch mit hohen Fremdlasten gearbeitet, in erster Linie aber eben Sprünge gemacht und viele Berganläufe. Wichtig ist, dass das Krafttraining abgestimmt ist auf die individuellen Eigenheiten eines jeden Athleten! Wenn aktuell Mittelstreckler Poserfotos von ihren bodybuildingmäßigen Oberkörpern ins Netz stellen, setzen diese ganz bestimmt falsche Prioritäten im Krafttraining: Ziel ist es doch, die zwei Runden schnell zu laufen und nicht bei irgendeinem regionalen Poserwettbewerb auf der Bühne zu glänzen. Bei Marc Reuther hat in dieser Sache ein Umdenken in die richtige Richtung stattgefunden, er sagt von sich, er habe sich quasi neu erfunden, mache weniger Kraft für den Oberkörper, sei damit leichter und fühle sich elastischer.


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - Diak - 17.07.2018

Zu den Nordic Hamstring Curls:
Mein Eindruck ist, dass sie von vielen praktiziert werden, weil die zahlreichen funktionaleren Alternativen zu wenig bekannt sind und nicht jeder in der Lage ist, intelligente Übungen zu entwerfen. Insofern ist eine evidente Wirksamkeit eher dann ein schlüssiges Argument, wenn sie gegen alternative Übungen (die passgenauer sind) getestet würden - wurden sie? Die Frage darf natürlich nicht sein, NHC oder kein exzentrisches Ischio-Training, sondern NHC oder passgenauere Übungen mit Sling/Skateboard/Pezziball etc.


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - icheinfachma - 17.07.2018

(17.07.2018, 07:45)Gertrud schrieb: An einfachichma: Quelle einer Studie für höhere Kraftproduktion bei Nicht-Überlappung von Aktin und Myosin im erweiterten exzentrischen Bereich?!

Gertrud

Die hab ich doch angehängt als Pdf. Hier gerne nochmal:


Mann muss allerdings dazu sagen, dass die Muskelfasern unter Laborbedingungen so stark gedehnt wurden, nicht in vivo, sondern in vitro. Ziel war, zu zeigen, dass auch ohne Überlappung von Aktin / Myosin und damit ohne Querbrücken größere Kräfte bei exzentrischen Belastungen erzeugt werden als bei konzentrischen und diese demnach nur vom Titin stammen können.


RE: Exkurs über Verletzungen im Mittelstreckentraining - icheinfachma - 17.07.2018

(17.07.2018, 00:31)Gertrud schrieb: Bei uns ist immer noch die Kraftausdauer beliebt, wie ich letztens noch hörte.  Angry ‌Sie geistert auch durch die Physiotherapie-Fortbildungen. Meine Nachbarin, eine Physiotherapeutin, hat letztens noch an einer solchen Fortbildung teilgenommen. 

Gertrud
Da würde ich differenzieren:


Ich führe z.B. alle Übungen für die Unterschenkelmuskeln mit vergleichweise hohen Widerständne und geringen Wdh.-Zahlen aus. Es gibt bei mir Trainingsphasen mit um 10-12 Wdh. für Hypertrophie und solche mit ca. 6 Wiederholungen für Maximalkraft. In AGP gibt es dann auch Kraftausdauerphasen mit 15 Wiederholungen und einzelne Regenerationswochen mit 20 Wiederholungen.

Hier können wir aus der Osteoporoseforschung lernen: Eine erhöhte Knochendichte ist v.a. durch Hypertrophietraining (um 10 Wdh. / ca. 40-60s Spannungsdauer) zu erreichen. Andere Forschungen zeigen, dass die Sehnen die größten Zunahmen hinscihtlich Querschnitt zeigen, wenn man mit 5-6 Wdh. traineirt. Sehnen brauchen eine hohe Zugspannung und gleichzeitig eine ausreichend lange Spannungsdauer, um aufgedehnt zu werden. Mit Krafttraining sind schon nach wenigen Wochen Sehnendickenzuwächse messbar, mit Lauftraining erst nach Monaten bis Jahren.

Trotzdem sehe ich die Kraftausdauer nicht vollkommen fehl am Platze: Als ich mit meinen Spezialübungen angefangen habe, habe ich mit Kraftausdauer begonnen. Es hat sich beim Sprinten / Springen keine wirkliche Linderung verschiedener Fuß- und Schienbeinbeschwerden eingestellt, was auch naheliegt. Nach einigen Wochen bin ich daher zu hypertrophie- / maximalkraftorientierterem Training übergegangen. Schon bei der ersten Trainingseinheit hatte ich während der Üubngsausführung Fußschmerzen, weil die Gewichte zu hoch waren. Also bin ich nach 2-3 Wochen wieder zum KA-Training übergegangen und habe dann ganz langsam die Gewichte gesteigert, 30 Wdh., dann 25, 20, 15 und schließlich 10-12. Erst als ich ca. 4 Wochen im 10-12-Wdh.-Bereich trainiert habe, sind plötzlich die Beschwerden sehr rapide weggegangen und ich habe meine Trainingsumfänge verdoppelt (!).

Das ist schon ein sehr deutliches Ergebnis gewesen und heißt für mich: Hypertrophie / Maxkraft für die Unterschenkel- / Fußmuskeln ja, aber bei Anfängern zu Belastungsgewöhnung bitte Kraftausdauer und über viele Wochen (gerne 2 Monate und mehr) dann Steigerung der Gewichte bis in den Hypertrophiebereich, damit sich auch die unzähligen kleinen Bänder, die die Fußknochen verbinden, anpassen können.