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Leichtathleten als Philosophen? - Druckversion

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RE: Leichtathleten als Philosophen? - MZPTLK - 17.11.2016

Leistung im Sport
Teil 9/2: Talent


Talent: Be-Gabung, Ge-Gebenes,
Gabe, Erbe, Mitgift, Geschenk, Hypothek, Anlagen, Ver-Anlagung, Potential(e), usw..

Also: in der Vergangenheit Ge-Machtes Ge-Wordenes,
Das Gegebene ist ge- oder un-gewollt, freiwillig oder unfreiwillig Mitzunehmendes auf dem Lebensweg.
Man kann nichts dafür
Herr Richter, ich bin unschuldig. Ich hatte schlimme Vorfahren.
- O.k., Freispruch!
(Kleiner Scherz!)

Ab der Schnittstelle Gegenwart
- wann ist das, bei der Durchtrennung der Nabelschnur, ab der Pubertät, ab Volljährigkeit...?
kann, sollte, muss man aus dem Ge.Gebenen was machen, das Ge-Machte.
Das Gegebene und das Gemachte unterscheiden sich nur in der Zeitabfolge.

Heute, jetzt ist die Vergangenheit der Zukunft.
Jetzt wird ge-macht.
Also wird immer gemacht.
Talente werden immer gemacht.

Talent ist nichts Statisches, Fertiges, Finales, sondern immer Werdendes.
Fremd- oder Selbst-gemachtes Werdendes.
Man kann was dafür.

Die Frage ist: wer kann was und wieviel dafür?
Ich empfehle, möglichst viel selbst dafür zu machen.
Sonst könnte man ins Jammern kommen:
'Früher war alles besser, besonders die Zukunft'
(Karl Valentin?)


Es gibt keine einheitliche wissenschaftliche Definition von Talent
- kann sie auch nicht geben.
Aber vielleicht bringen die Genetiker uns ein Stück weiter:
Die meisten Studien meinen, dass für ein sportliches Talent folgende genetische Prädispositionen gegeben sein müssen.
- ca. 50 % max. Sauerstoffaufnahmefähigkeit
- über 80 % Körpergrösse
- etwa 40 % BodyMass-Index
- ca. 50 % Muskelkraft

Die besten Sprinter aller Zeiten haben fast alle ihren Ursprung im Westen Afrikas.
Annähernd alle getesteten männlichen Topsprinter verfügen über das ACTN3-Gen.

Anders in Ostafrika, besonders im kenianischen Hochland über 2.000 m,
wo besonders die Nandi(1 Mio), ein Stamm-Zweig der Kalenjan(3,5 Mio)
für den Langstreckenlauf prädestiniert zu sein scheinen:
Sie haben seit 25 Jahren mehr internationale Medaillen gewonnen als alle europäischen Läufer.
Die Kalenjin haben seit 35 Jahren etwa 40 % aller internationalen Top-Rennen gewonnen.

Zufall? Die Kalenjin haben eine hohe Konzentration eines Enzyms, das den Milchsäureabbau fördert.
Sie sind kleiner als der Durchschnitt, haben längere Beine, dünnere Unterschenkel,
so ca. 500 g weniger zu bewegen. Daher resultiert etwa 8 % weniger Energieaufwand.

Einflussfaktoren wie Sozialisation, Motivation, Fleiss, Disziplin, gleichen sich bei Spitzenathleten immer mehr an
und sind deshalb für die Varianzen der Erfolge nur zu 15-20 % ursächlich.

In Deutschland wird oft noch zu sehr auf die Historie und den Leistungsstand von Athleten geguckt
und noch zuwenig aufs Potential.
Vorteile: u.a. weniger qualitativer Aufwand.
Nachteile: viele Talente bleiben unentdeckt, bzw, werden zuwenig oder nicht mehr gefördert.

Dass Abhilfe nicht so einfach ist, verdeutlicht uns der Genetiker Fischbach:
Die Wirkung, bzw. das Zusammen-/Gegeneinander-Wirken der meisten Gene ist noch nicht genügend erforscht.
Das menschliche Genom besteht aus über 3 Milliarden Basenpaaren.
Beim Sport sind Tausende Genvarianten im Spiel, die zusammen- oder gegeneinander-wirken.

Alle über 20 Genvarianten, die die Ausdauer am meisten fördern, sind ungleich verteilt,
darum ist es extremst unwahrscheinlich, den Löwenanteil, geschweige alle abzubekommen.

Man kann auch Pech haben:
Bron Brown(19), 2,34 gross und weiter wachsend, leidet am Sotos-Syndrom, einem genetischen Defekt.
Dieser bewirkt beschleunigtes Körperwachstum - mit entsprechenden Schmerzen
sowie verlangsamte Kognition und sprachliche Entwicklung.

Ganz wenige Gene sind bisher identifiziert, so das ACE Gen,
welches den 'Bauplan' des Enzyms hat, das den Blutfluss reguliert.
Die lange Variante dieses Enzyms fördert schnelleres Muskelwachstum, die kurze langsameres.

Angesichts dieses Forschungsstandes ist 'Nachhilfe' per Gen-Basteleien, Gen-Doping, etc.  äusserst kritisch zu sehen.

Anders als beim Physischen sieht es beim Psychisch-Geistigen aus.
Das Konservative(re), Determinierende scheint der Körper zu sein, weniger der Intellekt des Menschen.
So ist in den letzen 100 ,150 Jahren die Qualifikation der Bevölkerung stark angestiegen,
die - messbare - Intelligenz hat merklich zugenommen.
Viele Akademiker stammen aus Familien, denen man vor wenigen Generationen eine niedrige Bildungsleistung attestiert hätte.

Erblichkeit beschreibt in der Wissenschaft den genetisch verursachten Anteil an Abweichungen bei einem Merkmal,
einem Varianzanteil,der genotypische Varianzanteil  an der Gesamtvarianz.
Je ungleicher also die Ausseneinflüsse innerhalb einer untersuchten Gruppe sind,
desto geringer wird der genotypische Varanzanteil.
Je gleicher die Ausseneinflüsse sind,
desto eher lassen sich die Unterschiede innerhalb der Gruppen auf genetische Unterschiede zurückführen.

Einen allgemeingültigen genotypischen Varianzanteil gibt es nicht.
Er ist umweltabhängig und deshalb keine Naturkonstante.
Erst wenn man die Ungleichheit der Chancen abbaut, kann man erkennen,
wiviel von den Unterschieden genetisch bedingt ist.

Adoptionen in besser situierte soziale Schichten heben die durchschnittliche Intelligenz(meint er Kultur-abhängige Intelligenzmessungen?/MZPTLK) auf das durchschnittliche Niveau der Adoptiveltern(oft wird allerdings vor der Adoption geguckt, welchen 'Background' das Kind hat, damit die Genotypen nicht zu sehr auseinander liegen/MZPTLK).

Der durchschnittliche Intelligenzquotient in den Industriestaaten lag um 1900 nach heutigen Standards nahe 80 Punkten - an der Grenze der Debilität.
(Messbare) Intelligenz ist also in erheblichem Mass Umwelt-abhängig.

Das Ge-Machte von Psyche, Intellekt  und Willen kann  das Schicksal des Ge-Gebenen ändern.

'Die Eltern sind verpflichtet, die Seele der Kinder zu prägen.'
(Konfuzius)

'Wer seine Gedanken ändert, ändert sein Leben.
Das Glück Deines Lebens hängt von der Beschaffenheit Deiner Gedanken ab.'
(Marc Aurel)

'Das Überbietungsprinzip des Hochleistungssports ist genuin humane Lebensäusserung.
Es gehört zum Mensch-Sein, sich zu Leistungen zu motivieren, mit denen man sich überwindet(transzendiert?/MZPTLK).
Der Mensch nimmt nicht nur seine natürliche Lebensumgebung, sondern auch seine Natur(Talent; Ge-Gebenes/MZPTLK)
nicht als unveränderlich an, sondern macht was draus'(das Ge-Machte/MZPTLK).

'Wer den Fluss überquert, muss das eine Ufer verlassen.'
(Gandhi)

'Im Sport transzendiert der Mensch sich selbst und kann potentiell mit der Selbst-Entdeckung wieder auftauchen.
Sport enthüllt die menschliche Grundexistenz.
Im Sport wird eine praktische Wahrheit angestrebt, die nicht nur, bzw. weniger kognitiv-theoretisch 
als konkret-expressiv Gewolltes darstellt und damit eine besondere Chance zur Erfassung authentischer Wirklichkeit bietet.
Sport bedeutet nicht nur eine Ergänzung des Lebens, sondern ist Grundlage für eine Philosophie des Seins.'
(Slusher)

Talent ist in der Vergangenheit Ge-Machtes.
Talent ist  nicht nur ein Ge-Gebenes, ein Ge-Machtes der Vergangenheit, sondern ein in der Gegenwart  permanent Ge-Machtes.
Talent ist nicht nur Ge-Wordenes und Werdendes, sondern auch Ge-Wolltes und Un-Ge-Wolltes.
Talent ist nicht nur Determiniertes, Un-Abänderliches, sondern auch Transformier- und Transzendier-bares.

Ge-Gebenes kann aber auch durch Ge-Machtes verhunzt werden:
Anthony Hopkins ist Hobbymaler.
Er hatte mal den Künstler Stan Winston(Special Effects Jurassic Park) zu Gast.
- Wer hat das gemalt? Du? Das ist verdammt gut!
Ich habe keine künstlerische Ausbildung.
- Dann lern' bloss nichts über die Malerei!  Ich bin ausgebildeter Künstler, aber das, was Du tust, könnte ich nicht,
weil ich zuviel darüber weiss!

Malt Hopkins 'natürlich?
Macht Winston 'Künstliches?
Ist Talent 'natürlich'? Ist Kunst 'künstlich'?
Ist Ge-Machtes 'künstlich'?
Was ist Authentizität? Natürlich oder künstlich?
Wie ist es mit Evolution, Transformation, Transzendenz? Natürlich oder künstlich oder wie oder was?

Ist natürlich gut und künstlich schlecht?
Es besteht dringender Klärungsbedarf.


RE: Leichtathleten als Philosophen? - Pollux - 18.11.2016

Worin besteht denn Klärungsbedarf? Inwiefern ist denn das Talent von Bolt gemacht? Die Evolution macht nichts, dennoch ist das Talent als angeborenes ‚natürlich’. (Zu dieser Auffassung bin ich auch dann berechtigt, wenn ich soziale und kulturelle Hintergründe hinzunehme) Denn Natur ist per definitionem das, was wir nicht gemacht haben. (Es sei denn, man geht davon aus, dass der große Chef als Weltbaumeister oder Ingenieur - also qua Planung und mit bewusster Zwecksetzung - alles GEMACHT hat. Eine Annahme, die z.B. noch Leibniz für notwendig hielt, um die Wirklichkeit der bestmöglichen Welt zu erklären. Und sogar als Voraussetzung dafür verwendet werden kann, eine Übernahme des Jobs durch den Menschen zu postulieren. (Um es sehr salopp zu formulieren. Denn Begriff und Verständnis der Natur haben eine lange Geschichte) Dass das Talent von Bolt als etwas "werdendes" angesehen werden sollte (wie du sagst), kann ich nicht nachvollztiehen. Ein Taltent kann kultiviert werden- und in dem Fall kannst du einen Entwicklungsgedanken in Richtung menschlicher Selbstbildung geltend machen.Und event. sogar "Transzendenz" in dem Sinn, dass der Mensch das ist, was er aus sich macht. 

Aber du kannst (auch ohne metaphysische Zutaten) den Unterschied zwischen ‚natürlich’ und ‚künstlich’ dadurch einebnen, dass du sagst: irgendwann ist der Mensch in der Lage, die natürliche Evolution selber in die Hand zu nehmen. Dann - und nur dann – kannst du von ‚künstlich’ im vorliegenden Kontext reden. Jede Form der Kultivierung von Natur dagegen baut auf Voraussetzungen auf, die nicht von uns gemacht sind. Aber wenn es erst mal so weit ist, kannst du dir vielleicht einen Bolt zusammenbasteln - und ein Chr. Lemaitre kann sogar erleichtert aufatmen: „Endlich ist die natürliche Ungerechtigkeit und das Lotteriespiel der Natur im Sport überwunden.“ Solche Utopien der Machbarkeit lassen sich ja immer auch moralisch verbrämen. 

Solange das aber nicht der Fall ist, bin ich grundsätzlich zu der Annahme berechtigt, dass ein Lemaitre u.U. vielleicht sogar mehr aus seinen Möglichkeiten macht als der große Champion. Ja sogar, dass seine Leistung die höhere ist. Aber diese Möglichkeit lassen wir natürlich besser in der Schublade, denn der Sport lebt von einer Anschaulichkeit, die mit den Grenzen des Wissens ein sehr positives Arrangement getroffen hat. Das aber bedeutet wiederum: Eine wirklich objektive Betrachtung von "Leistung" würde unser Wissen überschreiten.   

Au ja, die ‚Transzendenz’. Davon lässt sich immer leicht viel reden. Was bedeutet sie denn bitte? Betrifft sie – sofern der Mensch und sein Handeln betrachtet wird - auch das Verhältnis von ‚natürlich’ und ‚vernünftig’, dann könnte sogar Natur die Tendenz haben, sich selbst zu überschreiten. Aber ‚künstlich’ wird sie dadurch noch lange nicht. Dennoch erlebst du es vielleicht noch, dass die Ungerechtigkeiten der Talentvergabe ‚weggemacht’ werden. Das könntest du dann auch ‚Transzendenz’ bzw. ein Streben nach dem „Göttlichen“ nennen. Solange das nicht der Fall ist – und die Frau Schäfer dennoch jeden natürlichen Vorsprung der Bolts leugnen darf – musst du vorsichtig mit Einebnungen, Umwertungen und dem Nietzsche-Spiel in Sachen sportlicher Transzendenz sein.   Wink


RE: Leichtathleten als Philosophen? - lor-olli - 18.11.2016

Begrifflichkeiten unterliegen immer einem gewissen Wandel, einem zeitlichen (Kontextwandel), einem gesellschaftlichen (soziokulturell oder auch ideologisch), einem technologischen (wenn zutreffend) aber auch einem, der von einem tieferen Verständnis z.B. wissenschaftlicher Umstände ausgeht… (Unter der Prämisse eines Göttlichen dürften wir Natur anders verstehen als unter rein wissenschaftlichen Aspekten…).

Unser Verständnis epigenetischer Veränderungen beginnt gerade erst Fuß zu fassen, dennoch verschiebt es z.B. den Begriff “Natürlichkeit“. Ist es noch Natur, wenn z.B. menschengemachte Lebensumstände (Chemie, Umweltverschmutzung etc. im Gegensatz zu Hunger, Klima etwa) die Genetik auch evolutionär beeinflussen?

Noch kennen wir nicht genau alle Umstände (z.B. auf molekulargenetischer Ebene) und deshalb definieren wir den “genetischen Vorteil“ den z.B. afrikanische Hochlandbewohner im Ausdauerbereich haben als Natürlich (Noch?). Was unterscheidet dann diese aber von Bewohnern anderer Hochländer (Indios, Nepalesen), die zumindest bezüglich der Höhenanpassung eine ähnliche genetische Veränderung erfahren haben dürften, ohne einen nennenswerten Ausdauervorteil daraus zu ziehen…

Unser immer tiefergehendes Eingreifen in unsere eigene evolutionäre Entwicklung (Crispr/CAS machen es so sogar “Hobbygenetikern“ möglich) und ein immer tiefergehendes wissenschaftliches Verständnis werden aber auch die Philosophie umkrempeln (salopp formuliert ich hätte auch tiefergehend schreiben können Wink).

Ist Zucht etwa Natur und sind unser heutigen Hochleistungskühe die bis zu 15000l Milch im Jahr geben natürlich? Ist dann die genetisch beschleunigte Veränderung unseres Erbgutes durch medizintechnische Vorgänge unnatürlich? (auf die Spitze getrieben: Spielt in dieser Erkenntniskette Gott noch eine Rolle?)

Wird Talent unnatürlich wenn wir beim Talente machen nachhelfen? In China hat man bereits vor über dreißig Jahren begabte Männer und Frauen mit speziellen körperlichen Merkmalen oder Begabungen gezielt zusammengeführt um Sportler zu “züchten“ - viele chinesische Basketballer entspringen solchen Beziehungen…). Natürlich weil wir nicht unmittelbar chemisch in die Genetik eingegriffen haben?

Die rasante Entwicklung der Menschheit, technologisch, medizinisch, gesellschaftlich aber auch evolutionär bzw Epigenetisch (Noch nie haben wir auch nur annähernd so viele auch biologisch hochwirksame Chemiekalien verwendet und verbreitet, nicht nur Antibiotika) wird schnell zu radikalen gesellschaftlichen Einschnitten führen - zur Zeit hängt meines Erachtens auch die Philosophie deutlich hinterher… Insofern besteht durchaus Klärungsbedarf Wink


RE: Leichtathleten als Philosophen? - Pollux - 18.11.2016

Das ist weder als Einwand noch als Korrektur plausibel. Im Übrigen: Dass Philosophie hinterherhinkt, liegt erstens in der Natur der Sache - ist aber zweitens gar nicht der Punkt. Lass das Wort also einfach weg. Wink


RE: Leichtathleten als Philosophen? - MZPTLK - 18.11.2016

Sehr gut!
Im nächsten Kapitel wird noch mehr geklärt, eingeebnet, glatt- und abgebügelt. Teufel


RE: Leichtathleten als Philosophen? - lor-olli - 18.11.2016

@Pollux,
ok, Einwand hingenommen, Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass mein monokausaler Zusammenhang noch unter dem Eindruck einer gewissen Sprachlosigkeit stand Wink

Szenario: Zwei Forscher (die ich beide respektiere) streiten sich - soweit normal insbesondere in einer aktuellen Diskussion. ABER erstens arbeiten beide exakt zum gleichen Thema, führen beide nahezu gleiche Arbeiten durch, bauen auf die selben bisherigen Erkenntnisse auf, haben recht ähnliche Ergebnisse und kommen dennoch zu gravierend anderen Schlüssen. Sehr schwierig für mich dieser (sehr lautstark ausufernden!) Diskussion tiefgehend zu folgen da die Thematik so spezifisch wird, dass außerhalb ihrer Teams kaum jemand im Detail folgen kann (Genforschung).

Was hat das mit Philosophie zu tun? Meines Erachtens zeigt sich hier eine Grundproblematik: “Wir“ entwickeln uns immer schneller, viele Forschungszweige in den Naturwissenschaften spezifizieren sich so stark, dass außer den Beteiligten nur sehr wenige folgen können. Ergebnisse und Erkenntnisse folgen in immer kürzeren Zeitabständen - für eine Aufarbeitung “des Wissensstandes“ bleibt immer weniger Zeit, mittlerweile fehlen uns oft die Worte, weil Begrifflichkeiten und ihre Definition kaum Zeit haben sich zu etablieren.

Man sieht diese Entwicklung noch stärker in technischen Bereichen - die Zahl der technischen Kürzel übersteigt fast schon die Zahl der Wörter in einem Standardlexikon… Kommunikation absurd, zumindest wenn es darum geht Entwicklungen gesellschaftlich einzuordnen und zu vermittlen. Die britische Regierung etwa hat das neue Gesetz zur Überwachung durch beide Kammern gebracht, ich vermute das mehr als 95% der abstimmenden Politiker nicht wirklich verstanden haben was sie da beschlossen haben! Demokratie paradox?

Die immer stärkere Diversifizierung des Wissens erschwert zunehmend den Blick auf Zusammenhänge, noch dazu wenn sich diese immer schneller verändern. Politiker treffen Entscheidungen aufgrund eigentlich mangelhafter Kenntnis - ist das tragbar, oder können sie in einigen Fragen gar nicht mehr angemessen reagieren? In wieweit kann die Philosophie hier Entscheidungshilfen geben wenn sie sich mit der Aufarbeitung relevanter Fragen so viel Zeit lassen muss das die Antwort nur noch in der Vergangenheit ohne Abstraktion relevant ist? (Ich weiß welche Einwände hier kommen, aber ich beziehe das auf den Aspekt, dass der Begriff Demokratie zur Worthülse verkommt… Wink)

Würde auch in die Diskussion zur Bildungsproblematik passen…
Entwickeln wir uns schneller als wir entscheiden können, oder "als gut für uns ist"?


RE: Leichtathleten als Philosophen? - MZPTLK - 18.11.2016

@Lor-Olii: Seit Jahrhunderten, in den letzeten Jahrzehnten verstärkt, driften immens ansteigende Problem- und Destruktions-Potentiale einerseits und hinteher hinkende individuelle, soziale und globale Problem-Lösungs-Kompetenzen und -Kapazitäten auseinander.

Natürlich haben auch Wissenschaftstheoretiker, Generalisten, Systemanalytiker und Philosophen nicht genügend Kompetenzen und Kapazitäten.

Was bleibt?
Mühe geben, Apfelbäumchen pflanzen...
'Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.'
(Goethe, Faust 2)

Wohlgemerkt: können, nicht müssen oder werden.


RE: Leichtathleten als Philosophen? - Pollux - 18.11.2016

@Lor-Olli

Ich weiß leider nicht genau, was du meinst. Bei dem Beispiel, das auf die extreme Komplexität eines Sachverhalts abhebt, kann ich nur sagen: je komplexer, desto mehr Zeit ist für Entscheidungen notwendig. Meistens aber betrifft das ja die Folgen. Oder die Abwägung von Zwecken und in Kauf zu nehmende Nebenwirkungen.  

Das Wissen über die Folgen unseres Handelns überschreitet aber per se unseren Horizont. Problematisch ist höchstens, dass man sich gewisse Folgen nicht mehr leisten kann. Aber wir leben doch weniger in Zeiten der Wissensüberforderung, sondern eher einer Paniklatenz. Dass man glaubt, sich diese oder jene Zurückhaltung nicht leisten zu können. Und wir leben in Zeiten, wo uns permanent die Alternativlosigkeit bestimmter Entscheidungen vorgegaukelt wird. 
Was die Dynamik des Wissens betrifft, so zwingt und diese eigentlich nicht zur Panik, sondern eher zur Gelassenheit. Bestimmte "Wahrheiten" können sich morgen schon als falsch erweisen. Panisch sind wir aber eher deshalb, weil wir gewisse Sachzwänge als Normalitäten akzeptieren. Aber davon profitieren v.a. Vertreter ganz bestimmter Interessen. Aber es gibt natürlich auch die Reformhysterie im politischen Entscheidungsraum. Und zwar als selbstauferlegter Zwang zur beständigen Unterlassungsfahndung. Aber wer überfordert uns da? Das Wissen? Bestimmt nicht! 

Wenn du darauf abhebst, dass das Manipulationswissen (Doping) schneller voranschreitet als...., so liegt das nicht an einer schicksalhaften Dynamik, sondern an Dummheit in mehrerlei Hinsicht. Man muss sich ihr aber nicht ergeben. Und wenn es dennoch geschieht (weil man den sportlichen Erfolgskult nicht zu bändigen vermag), dann geht der Sport halt irgendwann andere Wege. Aus der Gewissheit heraus, dass ein bestimmntes Orientierungswissen (und nicht jedes Verfügungswissen) entscheidend ist.


RE: Leichtathleten als Philosophen? - MZPTLK - 18.11.2016

(18.11.2016, 16:52)Pollux schrieb: 1 Bei dem Beispiel, das auf die extreme Komplexität eines Sachverhalts abhebt, kann ich nur sagen: je komplexer, desto mehr Zeit ist für Entscheidungen notwendig.

2 Das Wissen über die Folgen unseres Handelns überschreitet aber per se unseren Horizont. 
Aber wir leben doch weniger in Zeiten der Wissensüberforderung..

3 Was die Dynamik des Wissens betrifft, so zwingt und diese eigentlich nicht zur Panik, sondern eher zur Gelassenheit. Bestimmte "Wahrheiten" können sich morgen schon als falsch erweisen. 

4 Aber wer überfordert uns da? Das Wissen? Bestimmt nicht! 

1 Das muss nicht so sein.
2-4: Bitte erläutern, kann so nicht stehen bleiben, weil unverständlich/missverständlich/widersprüchlich oder schlicht falsch


RE: Leichtathleten als Philosophen? - Pollux - 19.11.2016

Weil du es bist! 

1) Es ging nicht darum, ob dies sein muss, sondern darum, wie man rational auf „Überkomplexität“ reagiert. Man lässt sich die nötige Zeit zum Begreifen. Als Voraussetzung angemessenen Entscheidens. Außerdem habe ich mal was von "Komplexitätsreduktion" als Umgangsform und Normalität gehört....

2) Ich muss einem Sportler hoffentlich nicht erklären, dass die Folgen menschlichen Handelns niemals völlig absehbar sind. Schon ein Schachspieler (der mit einen halbwegs ebenbürtigen Gegner spielt) kann nicht die Folgen seines Zuges vorhersehen. Ein Umstand, der ihn zwar an der Erfolgssicherheit hindert, aber zugleich ein Umstand, der für den Sport DAS Faszinosum bedeutet. In verantwortungsgeladenen Kontexten ist besagter Punkt jedoch ein wesentliches Problem. Und darum ging es. 

3) Ist so klar wie Klärchen. Die Erkenntnis über den Stellenwert der Kohlenhydrate (als Beispiel) hat sich in relativ kurzer Zeit drastisch verändert. Wer deshalb meint, mit der neuesten Studie der Ernährungswissenschaft kokettieren zu können, muss damit rechnen, dass er schon bald eines Besseren belehrt wird. Folglich ist nicht Anbetung gefragt, sondern Gelassenheit gegenüber jener ‚Veraltungsgeschwindigkeit’, die auch empirische Erkenntnis im Kontext praktischer Anwendungen betreffen kann. 

4) Hier guckst du auf das, was vor dem Satz steht. Dabei ging es z.B. um die Akzeptanz von Sachzwängen. „Man kann die und die Forschung nicht unterbinden.“  „Was sich machen lässt, wird gemacht werden.“ Alles zeitgenössische Diagnostiken bzgl. der mögliche Enteignung des Menschen durch die Modernitätsdynamik. Nur, wer so redet, kehrt in die klassische Sicht der Schicksalhaftigkeit der Welt zurück. Wer dann noch hinzufügt: „Dabei handelt es sich um eine Überforderung, die mit der Dynamik des „Wissensfortschritts“ liegt“, der muss sich gefallen lassen, dass der Zuhörer zu einer der Ironie-geladenen Entgegnung greift. Was ich nicht getan habe.
Was außerdem auch kein Vorwurf an Lor-Olli war, denn der hat einen zahmeren Kontext gewählt. Jedoch auch in immer komplexeren Sachverhalten kann man nur in einem bestimmten Sinn von Überforderung durch das Wissen sprechen. In der genetischen Forschung sind wir so weit, dass man inzwischen schon in Streit darüber gerät, was überhaupt ein Gen ist. Diese Überforderung ist aber eine Normalität, die bisweilen auch mit Ausdifferenzierung beschreiben wird. Außerdem werden sogar grenzüberschreitende Utopien über den Stellenwert der Genetik zurechtgerückt. Was aber wiederum auf den Punkt 3) und die Gelassenheit als Tugend zurückverweist. Wer überfordert uns hier? Ein „Prozess" und seine Eigendynamik? Das würde auf den Anfang von Punkt 4) zurückverweisen. Mittelstraß hat mal gesagt, dass wir vom Subjekt des Fortschritts zum Objekt werden können. Deshalb sollten wir uns an den Primat des Orientierungswissens erinnern. Also an das, was praktische Vernunft besagt - und dem einen angemessenen Stellenwert zuweisen.