01.11.2016, 17:49
„Sport ist eine ästhetische Inszenierung der menschlichen Natur, und zwar nicht zuerst seiner sozialen Natur, wie gern behauptet wird, sondern zuallererst seiner physischen Natur − derjenigen Natur, auf die er sich in allen seinen körperlichen Aktionen verlassen muss, deren er sich aber zugleich niemals vollständig versichern kann. Die physische Natur tritt dem Menschen im Sport zugleich als Bedingung und als Grenze seines Vermögens gegenüber − jedoch im entscheidenden Augenblick als eine positive Grenze. Der moderne Sport ist eine Zelebration des menschlichen Unvermögens, seiner selbst physisch (und auch psychisch) Herr zu werden. Im Sport (d.h. im sportlichen Wettbewerb, Anm. des Verf.) feiert der Mensch mit seinen physischen Fähigkeiten zugleich die Grenze dieser Fähigkeiten − und damit eine Grenze seiner Macht über sich und die Welt.
Freilich: Mit diesen Sätzen ist bloß eine Möglichkeit, nicht hingegen die Wirklichkeit des heutigen Sports beschrieben. Vieles, was sich im heutigen Sport abspielt, entspricht eher dem Gegenteil des von mir entworfenen Bildes. Der moderne Sport ist weithin einer Mythologie des Sports verfallen − genau in jener Bedeutung von Mythologie, die Nietzsches Diktum zugrunde liegt: Sie deklariert alles Geschehen zum Tun, zur absichtsvollen Leistung. Sport wird als höchster Ausdruck einer in sich selbst verliebten Leistungsgesellschaft nicht nur kritisiert, er wird so auch oft betrieben und angepriesen. Es liegt aber keineswegs im Wesen des heutigen professionellen Sports, mit einer solchen Mythologie oder Ideologie der menschlichen Leistungskraft verbunden zu sein. Das eigentliche Telos des Sports wird in dieser Ideologie vielmehr gerade verkannt und verraten. Das zeigt sich nirgends besser als in den Diskussionen um Erlaubtheit und Unerlaubtheit des Dopings. Meist wird Doping deshalb kritisiert, weil es dem Athleten unerlaubte Vorteile verschafft und weil es langfristig die eigene Gesundheit gefährdet; beides ist zwar für sich selbst verurteilenswert, beides aber geht am Kern der Unsportlichkeit des Dopings vorbei. Doping nämlich ist Missachtung der sportlichen Tätigkeit als solcher. Wer dopt, negiert die Grenzen seines eigenen Vermögens, will also nicht wahrhaben und im Vollzug der Leistung auch nicht selbst wahrnehmen, daß in der möglichen positiven Erfahrung dieser Grenze der ganze Sinn der sportlichen Tätigkeit liegt. Insofern ist Doping übrigens ein durchaus konsequenter Ausdruck jener Ideologie des Sports, die an ihm nur den Willen zur Leistung, nicht aber die Erfahrung seiner Überschreitung rühmt. Man kann auch sagen: In ihr kommt der Körper nur als Instrument des Sieges oder der Bestzeit, nicht aber als unkalkulierbares Medium des Austrags sportlicher Wettkämpfe vor. Diese Ideologie lässt sich erfolgreich allein von innen kritisieren − durch den Nachweis, dass die sportliche Leistung gar nicht so funktioniert, wie diese Ideologie uns weismachen will.“
(M. Seel, Die Zelebration des Unvermögens. Zur Ästhetik des Sports, in: Merkur, Jg . 47, S. 91- 100)
Freilich: Mit diesen Sätzen ist bloß eine Möglichkeit, nicht hingegen die Wirklichkeit des heutigen Sports beschrieben. Vieles, was sich im heutigen Sport abspielt, entspricht eher dem Gegenteil des von mir entworfenen Bildes. Der moderne Sport ist weithin einer Mythologie des Sports verfallen − genau in jener Bedeutung von Mythologie, die Nietzsches Diktum zugrunde liegt: Sie deklariert alles Geschehen zum Tun, zur absichtsvollen Leistung. Sport wird als höchster Ausdruck einer in sich selbst verliebten Leistungsgesellschaft nicht nur kritisiert, er wird so auch oft betrieben und angepriesen. Es liegt aber keineswegs im Wesen des heutigen professionellen Sports, mit einer solchen Mythologie oder Ideologie der menschlichen Leistungskraft verbunden zu sein. Das eigentliche Telos des Sports wird in dieser Ideologie vielmehr gerade verkannt und verraten. Das zeigt sich nirgends besser als in den Diskussionen um Erlaubtheit und Unerlaubtheit des Dopings. Meist wird Doping deshalb kritisiert, weil es dem Athleten unerlaubte Vorteile verschafft und weil es langfristig die eigene Gesundheit gefährdet; beides ist zwar für sich selbst verurteilenswert, beides aber geht am Kern der Unsportlichkeit des Dopings vorbei. Doping nämlich ist Missachtung der sportlichen Tätigkeit als solcher. Wer dopt, negiert die Grenzen seines eigenen Vermögens, will also nicht wahrhaben und im Vollzug der Leistung auch nicht selbst wahrnehmen, daß in der möglichen positiven Erfahrung dieser Grenze der ganze Sinn der sportlichen Tätigkeit liegt. Insofern ist Doping übrigens ein durchaus konsequenter Ausdruck jener Ideologie des Sports, die an ihm nur den Willen zur Leistung, nicht aber die Erfahrung seiner Überschreitung rühmt. Man kann auch sagen: In ihr kommt der Körper nur als Instrument des Sieges oder der Bestzeit, nicht aber als unkalkulierbares Medium des Austrags sportlicher Wettkämpfe vor. Diese Ideologie lässt sich erfolgreich allein von innen kritisieren − durch den Nachweis, dass die sportliche Leistung gar nicht so funktioniert, wie diese Ideologie uns weismachen will.“
(M. Seel, Die Zelebration des Unvermögens. Zur Ästhetik des Sports, in: Merkur, Jg . 47, S. 91- 100)